In einer engen Spalte im Geröll klettert das Tierchen hoch und runter. Geschickt nutzt es dabei seine Hände und Füsse. Trotz seines eher plumpen Körpers, kann es sich durch fast jede Öffnung zwängen. Es handelt sich um eine Schneemaus. Diese Wühlmausart lebt in alpinen Geröllfeldern oberhalb der Baumgrenze und ist den meisten wohl unbekannt.

Sichtbar gemacht hat sie Lea Gredig, Künstlerin und Biologin aus dem Engadin. Ihre abstrakt wirkende Zeichnung zeigt die Schneemaus, nicht stillsitzend im Portrait, sondern in verschiedenen Posen und Bewegungen – und kommt damit der Realität der immer flink umherwuselnden Nagetieren paradoxerweise umso näher.

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Zu bestaunen gibt es die Schneemaus im kürzlich erschienenen und von den Philosophen Andreas Brenner, Mathias Gredig und Markus Wild sowie dem wissenschaftlichen Zeichner Niklaus Heeb herausgegebenen Buch «Mäusephilosophie – die Zeichnungen von Lea Gredig». Dieses wiederum entstand begleitend zu einer Ausstellung in der Stadtgalerie Chur im Juli 2021, welche unter anderem die originalen Zeichnungen der Künstlerin zeigte, die sie ursprünglich für das Buch «Die Mäuse und ihre Verwandten» des Kleinsäugerexperten Jürg Paul Müller angefertigt hatte (lesen Sie hier unsere Buchbesprechung). Dieser war es auch, der nicht wollte, dass die nicht in seinem Buch veröffentlichten Skizzen in Vergessenheit geraten und so die Idee hatte, sie in einer Ausstellung zu würdigen.

Leicht und wendig
Das nun vorliegende Buch will erst recht nicht, dass die Zeichnungen in Vergessenheit geraten – und das ist gut so. Denn diese fangen gekonnt und mit einer erstaunlichen Leichtigkeit die Wendigkeit der kleinen Tiere ein und ermöglichen eine Sichtweise auf ihr Leben, die uns normalerweise verborgen bleibt.

«Durch ihre schnellen Bewegungen entziehen sich die Mäuseartigen einer präzisen Wahrnehmung und somit auch Visualisierung. Das finde ich faszinierend», sagt Lea Gredig. «Meine Zeichnungen sind damit mehr ein Versuch einer Annäherung an eine mögliche Darstellung. Und dieses ‹Diffuse› gefällt mir.» Doch auch die Lebensweise und Anpassungsfähigkeit der Tiere, ihr Wachsein, ihre hübschen Farben und hochfrequenten Töne – manchmal gar Lieder – haben es der Zeichnerin angetan.

Gredigs Mäusezeichnungen umfassen nicht nur Nagetiere, sondern auch die im Volksmund als «Mäuse» bezeichneten Spitzmäuse und den Maulwurf. Beide gehören zur Gruppe der Insektenfresser, die mit den eigentlichen Mäusen nur entfernt verwandt sind. Doch gerade die Spitzmäuse mag Gredig besonders gerne. Von ihren Zeichnungen sind ihr die Skizzen der Rotzahnspitzmaus am Liebsten, sagt sie. Ausserdem gefällt ihr an den kleinen Insektenjägern ihre «irgendwie humorvolle Körperform». Während der Arbeit an dem Projekt gelang Gredig an einem Bach im Oberengadin sogar die Beobachtung einer Wasserspitzmaus. Dieses Glück hat man nicht allzu oft, denn die Tierart ist in der Schweiz als «gefährdet» eingestuft.

Philosophische Begleitworte
Zu erwähnen sind natürlich auch die vier Essays, welche die Zeichnungen begleiten und die vordere Hälfte des Buches ausmachen. Verfasst haben die Texte die vier Herausgeber. Jeder von ihnen beleuchtet auf originelle und teilweise überraschende Weise einen anderen Aspekt der Zeichnungen. Ihnen allen gemein ist aber, dass sie die ausserordentliche Bewegtheit der kleinen Nager ins Zentrum stellen. So weist zum Beispiel Markus Wild eingangs darauf hin, dass der deutsche Mönch und Universalgelehrte Albertus Magnus aus dem 12. Jahrhundert im spärlichen Licht eines nächtlichen Klosters wohl einer Sinnestäuschung unterlegen haben muss, als der glaubte, bei einer Tonfigur einer Maus, die eine Kerze hält, handle es sich um ein echtes Tier. Genau mit diesem Effekt spielten auch Gredigs Zeichnungen, so dass man wahrlich glauben könne, die kleinen Nagetiere bewegten sich wirklich.

Mit dem Ansatz der Bewegtheit stellen die Zeichnungen nun auch den wohl wichtigsten Teil eines Mäuselebens ins Zentrum. Um ihren kleinen Organismus am Laufen zu behalten, müssen die Tiere nämlich immerzu fressen und sich bewegen – sei es nun die Schneemaus oder eine ihrer Verwandten.

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Andreas Brenner, Mathias Gredig, Niklaus Heeb, Markus Wild, Lea Gredig:
«Mäusephilosophie – die Zeichnungen von Lea Gredig»
1. Auflage 2021
Taschenbuch, 116 Seiten
Verlag: Gammeter Media
ca. 29.- Franken
ISBN: 978-3-9525338-5-7