Der Kaschmir-Wolf geht auf zwei Beinen. Er ist Feind der Reichen und Herzlosen. Jede Nacht jagt er einen von ihnen, um ihn in seine Höhle zu bringen. An diese Legende glauben tatsächlich viele Dorfbewohner in abgeschiedenen Bergregionen Afghanistans. Sie erfinden Geschichten, um die Mysterien des Lebens und der Welt zu erklären. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus: Real existierende Wölfe reissen immer wieder Schafe. Aus diesem Grund versuchen die Hirten ihre Schafherden mit Steinschleudern gegen die Raubtiere zu verteidigen. 

Zu ihnen gehört auch der elfjährige Quodrat. Er wird von anderen Kindern gehänselt, weil seine Mutter nach dem Tod des Vaters mit einem alten Mann verheiratet werden soll, der bereits zwei Frauen hat. Trost findet der Junge bei seinen Schafen, mit denen er am liebsten alleine durch die menschenleere Landschaft streift. Dabei trifft er eines Tages auf das gleichaltrige Mädchen Sediqa, die sich ebenfalls um eine Schafherde kümmert und von anderen Kindern gemieden wird. Ihre Grossmutter sei nämlich von einem bösen Geist in Gestalt einer Schlange verhext worden.

Ihr Schicksal verbindet die beiden Aussenseiter. Sie schliessen eine innige Freundschaft, obwohl sie wissen, dass sich das in ihrer Kultur zwischen Mädchen und Jungen nicht gehört. Sediqa träumt davon, eine Steinschleuder, wie sie die Buben haben, zu besitzen, und mit dieser Wölfe zu vertreiben. Quodrat zeigt ihr, wie man eine solche knüpft. Doch dann wird er mit seinen Brüdern von der Mutter weggeschickt – die ältere Schwester, die in der Stadt lebt, soll sich von nun an um die Kinder kümmern.

Unterschiedlich wie Wolf und Schaf
Der Kinofilm «Wolf and Sheep» (Wolf und Schaf) ist eine wunderbare Hommage an die hierzulande kaum bekannte wilde Schönheit der Landschaft und Natur Afghanistans. Aber auch die Beziehungen der Kinder berühren zutiefst. Sie probieren heimlich den Geschmack von Zigaretten, raufen miteinander und philosophieren über die Rolle der Frau. Die unbeschwerte Kindheit und Dorf­idylle erhalten aber immer wieder Risse vom harten Alltag, der von Konflikten und Vorurteilen geprägt ist. Das zeigt sich gleich zu Beginn, als Quodrats Vater beerdigt wird. 

Der Film lebt von den unterschiedlichen Gefühlswelten. Sinnbildlich dafür stehen Wolf und Schaf. Auf der einen Seite steht quasi die Sanftheit der gejagten Schafe und auf der anderen die Rauheit der jagenden Wölfe. Dabei wirkt die Handlung keineswegs konstruiert, sondern im hohen Mass glaubhaft. Ein Verdienst der erst 26-jährigen Regisseurin Shahrbanoo Sadat, die als Tochter von Landwirten in einem kleinen zentralafghanischen Dorf aufgewachsen ist. Der Zuschauer spürt schnell, dass sie eine Geschichte aus der Erfahrung ihres Lebens erzählt, denn wie ihre Hauptdarsteller war auch Sadat als Kind eine Aussenseiterin. 

Die Regisseurin und Frauenrechtlerin verrät aber auch in angenehm unaufdringlicher Weise viel über die Traditionen des Volkes der Hazara, der drittgrössten Ethnie der zentralasiatischen Nation. «Ich will die Klischees dieses Landes, das eine so reiche Kultur hat, verdrängen und ein neues Image von Afghanistan kreieren», sagt Sadat. Das gelingt ihr mit ihrem ersten Spielfilm eindrucksvoll. 

«Wolf and sheep», 86 Minuten, Studio: trigon-film, ab Donnerstag, 24.11.2016 in ausgewählten Schweizer Kinos. Spielorte unter: www.trigon-film.org

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