Sie haben es vielleicht gelesen: Der Tigertempel in Thailand muss seine Tiger abgeben. Es tönt schrecklich, was dort passiert. Statt von den Zitzen einer animalisch riechenden Mutter zu trinken werden die Tigerwelpen von morgens bis abends von parfümierten Frauen und deodorierten Männern geschöppelet. Möglicherweise verkaufen die Mönche gar Tiger, deren Körperteile im nahen China bekanntlich beliebte Ingredienzien von Heilmitteln sind. Alles nur des Geldes wegen.

Doch bevor wir uns ein Urteil erlauben, wollen wir den Sachverhalt in seinem grösseren Umfeld betrachten – dem Gedankengut des buddhistischen Glaubens. Diese Weltreligion hat eine wichtige Gemeinsamkeit mit dem Christentum: der Grundsatz der Nächstenliebe. Buddha ging aber einen entscheidenden Schritt weiter als Jesus: Gemäss seiner Lehre gilt die Nächstenliebe auch für Tiere. Denn Buddhisten glauben an die Wiedergeburt aller Lebewesen. In ihren Augen ist es durchaus möglich, dass die Mücke, die jemand unachtsam zerquetscht, in einem früheren Leben seine kürzlich verstorbene Grossmutter war. 

Für einen Mönch stehen die Chancen grundsätzlich gut, wieder als Mensch zur Welt zu kommen. Wenn er allerdings die religiösen Grundsätze nicht allzu streng befolgt, könnte ihn ein Leben als Tiger oder gar als Mücke erwarten. Wobei die Geburt als Mücke statistisch gesehen – unter Berücksichtigung des Artenbestandes und der durchschnittlichen Lebenserwartung – grob geschätzt 1'000'000'000'000’000 Mal wahrscheinlicher ist denn die Geburt als Tiger.

Um einem Leben als Mücke und dem damit einhergehenden potenziellen Tod durch Zerquetschen zu entgehen, müssen sich Mönche also intensiv mit dem Buddhismus befassen. Sie können ihre Chancen etwa durch Meditieren verbessern, allerdings können sie damit ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten. Somit sind sie auf das Einkommen angewiesen, das ihnen im Tigertempel eben die Tiger verschaffen.

Sie mögen noch immer der Meinung sein, die Tiger würden dabei ausgenutzt. Nun ist es aber gut möglich, dass der Tiger, der sich vom Touristen hätscheln lässt, in einem früheren Leben ein buddhistischer Mönch war. Unter diesen Umständen wird er wohl nichts dagegen haben, für ein bezahltes Foto zu posieren und seinen natürlichen Beissinstinkt zu unterdrücken – es dient der Verbreitung des buddhistischen Glaubens und damit dem Grundsatz der Tierliebe und letzten Endes dem Wohl der Tiere.

Die gewinnbringende Verwendung der Tiger ist damit ebenso legitim wie einst die Kreuzzüge oder der Krieg im Irak, den George  W. Bush im Namen des Christentums führte. Der hatte damit ja auch nur der Verbreitung der Nächstenliebe gedient.