Da war es wieder, dieses Leuchten und Funkeln am schwarzen Nachthimmel im Norden. «Das ist sonderbar», murmelte Kaspar in dichte Tücher gehüllt vor seiner Hütte sitzend. Still suchte er am Firmament nach den ihm bekannten Sternbildern. Sie waren alle da, doch diesen neuen Stern, den hatte er noch nie gesehen.

Längst war die Glut der Feuer vor den Hütten unten im Tal der Amharer ausgegangen, doch Kaspar konnte jetzt nicht schlafen. Etwas Unsichtbares bewegte ihn zutiefst. Er musste schon am Morgen früh aufbrechen Richtung Norden. Wie lange die Reise wohl sein würde? Er wusste es nicht. Eine tiefe Traurigkeit legte sich über ihn, sodass sich seine Augen mit Tränen füllten. Sollte er wirklich abreisen aus seinem geliebten Bahir Dar?

Als Kaspar in diesem Dorf im nördlichen Äthiopien geboren wurde, hätten es sich seine Eltern nie erträumt, dass ihr Sohn einst zu einem Weisen werden würde, der sich nie eine Frau nehmen würde und immer für andere da war. Früh schon hatte sich Kaspar durch seine Sanftmut ausgezeichnet. Seine Friedfertigkeit und Hilfsbereitschaft hatten ihm grossen Respekt eingebracht, sodass heute Menschen von weit her kommen, um seinen Rat einzuholen oder ihn um Hilfe zu bitten. 

Der Stern wies den Weg
Der Mond versank als schwache Sichel hinter dem Gebirge, doch der sonderbare Stern glitzerte noch lange in den Morgen hinein. Nach Anbruch der Morgendämmerung verabschiedete sich Kaspar von seinen alten Eltern, band sein Kamel los und machte sich auf den Weg. Vor langer Zeit hatte ihm seine Mutter aus buntem Stoff ein Gewand genäht, das er jetzt trug. Er erhielt den Stoff einst von einem reichen Kaufmann aus dem Küstengebiet weit im Süden, dessen Sohn ihn verlassen hatte und ihn um Rat fragte. Der edle Stoff machte aus dem grossen, schlanken Kaspar einen König. Er hatte zudem ein eindrückliches Gesicht mit hohen Wangenknochen, wachen Augen und schneeweissen Zähnen. 

Die Reise würde durch trockene Gebiete führen, dessen war er sich sicher. Kaspar kaufte bei einer armen Familie Datteln und füllte am Bach Schläuche aus Tierhäuten mit Wasser. Er band sie auf sein Kamel. Steinböcke standen auf einem Felsvorsprung und schauten ihm zu. Als es gegen Mittag unerträglich heiss wurde, rastete er in einem Akazienhain. Das Kamel zupfte Blätter von den dornigen Ästen, Kaspar fiel sofort in einen leichten Schlaf.

Sie marschierten meistens in der Nacht, wenn der Stern leuchtete und ihnen den Weg wies. Noch vor der Abenddämmerung brachen sie jeweils auf. Als ob das Kamel um die Bedeutung des Sterns wüsste, blickte es mit stoischer Ruhe in den Nachthimmel und trottete los. Einmal durchquerten sie an einem Morgen eine endlos scheinende, sumpfige Ebene mit grossen Herden von Kaffernbüffeln, die von den Fremdlingen kaum Notiz nahmen. Ein Flusspferd aber streckte seinen Kopf frühmorgens aus dem Wasser. Kaspar liess sein Kamel etwas abseits vom saftigen Gras zupfen und ruhte sich im Schatten einer Kandelaber-Euphorbie aus. Einige Tage später marschierten sie die ganze Nacht einen schmalen Pfad hinunter in eine trockene Ebene, wo der Wind heiss blies. Im Morgengrauen erreichten sie Al Quadarif. 

Kasuku war keine Augenweide
Der schmächtige Amidou schob seinen klapprigen Karren vor den Mauern des Maragha-Akbar Palasts hindurch. Schweisstropfen liefen ihm über Stirn und Wangen, sein verhärmtes Gesicht war von Sorgenfalten und Missmut gezeichnet. Er war spät dran, darum erhielt er auf dem grossen Marktplatz vor dem Stadttor nur am Rande einen Platz, dort, wo sich bereits dorniges Gebüsch breitmachte. Mürrisch breitete er alles zum Verkauf vor sich aus, das er auf seinem Wagen hatte: gebrauchte Schuhe, Holzbündel, schrumpelige Granatäpfel, und zuletzt stellte er grob einen Holzkäfig auf den staubigen Boden. In ihm sass eine erbärmliche Kreatur. 

Die Sonne brannte schon bald unerbittlich. Amidou, dessen verkniffene Augen stets unruhig hin und her schossen, wie diejenigen eines Tieres, das sich in die Enge getrieben sah, war ihr ausgesetzt, und aufgrund seines schlechten Standplatzes kamen kaum Kunden vorbei. Wutentbrannt hievte er seine Ware gegen Mittag wieder auf den Wagen. Als er den Käfig schon in den Händen hielt schimpfte er: «Du ruinierst mich noch völlig, kein Mensch will dich kaufen, du wüster Vogel. Ein Papagei sollst du sein! Pah, dass ich nicht lache! Papageien sind bunt und schön, doch du bist ja nur grau und zerzaust! Dich will doch keiner. Ich bin es leid, dich dauernd zu füttern.» Schon warf er den Käfig auf den Boden Richtung Gebüsch, packte seine Karre und schob sie stampfend weg.

Kasuku rappelte sich auf. Das Türchen zum Käfig war aufgesprungen. Der Papagei kletterte hervor und zog sich matt mit seinem Schnabel an einem Ästchen hoch. Da sass er, dem Tode geweiht. Wie oft musste er es nun schon hören, dass er nicht schön sei. Wie oft wurde er für alles Missgeschick, das einem Menschen anheimfiel, verantwortlich gemacht. Sein Drama hatte weit weg im Westen begonnen, als er im tiefen Regenwald im Flug den Anschluss an seinen Trupp verlor und an einer Leimrute kleben blieb. Zusammen mit anderen Vögeln wurde er auf einem Markt angeboten, doch niemand wollte ihn haben, denn er war ja nur grau. Alle Vögel mit bunten, glitzernden Federn wurden schnell gekauft, doch er wurde immer nur beschimpft. In einem kleinen Holzkäfig in einer Kamelkarawane kam er in den Osten des Kontinents zu Amidou, der sich ein Geschäft mit dem komischen Vogel erhoffte. Nun wollte Kasuku nur noch sterben.

Köstliche Datteln für Kasuku
Gegen Abend, als die Sonne im Westen hinter Sanddünen glutrot am Verschwinden war, hörte er plötzlich Schritte. Ein königlich gekleideter, dunkler Mann kam neben einem Kamel hergehend aus der Stadt. Als er auf der Höhe von Kasuku war, gab der Papagei einen sanften, melodiösen Pfiff von sich. Kaspar blieb verwundert stehen, sein Kamel schien sich nicht im Geringsten für den fremden Laut zu interessieren. Und nun kam Kasuku über den Sandboden gewatschelt. Irgendetwas zog ihn, ganz wider seine Natur, zu diesem Mann hin. Kaspar fragte: «Was bist denn du für einer? Einen solchen Vogel habe ich noch nie gesehen. Und schön pfeifen kannst du.» Sachte streckte er seine Hand aus und Kasuku kletterte zögerlich darauf. Kaspars dunkles Gesicht strahlte, sodass seine weissen Zähne blitzten.

Am Himmel zogen krächzend einige Schild­raben Richtung Süden über den grossen Fluss. «Du siehst ja ganz zerzaust aus. Armer Vogel. Magst du Datteln?», wollte Kaspar wissen und reichte ihm eine. Und ob! Kasuku knabberte gierig daran und verlangte bald nach einer weiteren. Solche Köstlichkeiten hatte er früher nie erhalten. Kaspar ging zum Kamel und band einen Beutel ab. Darin waren Nüsse, die er sich als Wegzehrung gekauft hatte und die er dem Vogel reichte. Sachte tastete er seine Flügel ab. «Alles ist intakt. Vermutlich ist dieser eigenartige graue Vogel einfach schwach», murmelte Kaspar. Da sah er den kleinen Holzkäfig im Gestrüpp. Die Tür war abgebrochen. Der Graue würde schon darin bleiben, dachte er und band das Kistchen auf den Kamelrücken.

Er hob Kasuku an die Flanke des Kamels. Dieser begriff sofort, hielt sich mit seinem Schnabel am Tuch fest, hangelte sich hoch und kroch in seine Kiste. Kasuku fühlte sich plötzlich geborgen und döste vor sich hin, während sein Kistchen wie auf einem Schiff hin und her schaukelte. Kaspar sass jetzt oft auch auf dem Kamelrücken, denn der Weg führte durch einsame Wüstengebiete. Kasuku pfiff und murmelte manchmal so lustig vor sich hin, dass sogar das Kamel lächelte. Kaspar streichelte das gute Tier immer wieder und vergass auch nie, Kasuku am Köpfchen zu kraulen. Der neue Stern schien immer heller zu funkeln. 

Bei der Räuberfamilie
Kaspar war ein genügsamer und guter Mensch. Er liess eine alte Frau auf dem Kamel mitreiten, hinterliess in einer erbärmlichen Hütte einige Silberstücke, damit der kranke Vater mit seltenen Medizinalkräutern gesund gepflegt werden konnte und schlichtete in einem üblen Streit, der unter Hirten und Bauern wegen Zebuherden entstand. Er gab sogar sein schönes Tuch, mit dem er den Sattel bedeckte, einem Bettler und klopfte gar einst in einer Oase an die Behausung eines berüchtigten Räubers. Nur seine Frau war zu Hause, liess ihn verwundert eintreten. Kaspar fragte, ob er in ihrem Garten in dieser Oase etwas ausruhen dürfe. Die Frau erlaubte es ihm, war aber voller Sorge, was passieren möge, wenn ihr Mann nach Hause käme. 

Die Räuberfamilie hatte ein einziges Kind, ein Mädchen, das stets deprimiert in der Hütte hockte und keine Lebensfreude zeigte. Als Kaspar des Kindes gewahr wurde, rief er es zu sich. Zur Verwunderung der Frau verliess es die Hütte und ging zu Kaspar an den Teich. Lange sprach der Weise mit ihm. Nun hörte die besorgte Mutter ein Pfeifen und Glucksen und unvermittelt gar ein helles Lachen. Sie konnte es nicht glauben, ihr Kind lachte! Auf Kaspars Hand sass ein eigentümlicher, menschenzungiger Vogel und machte Kapriolen. 

Als gegen Abend der Räuber nach Hause kam, fragte er sogleich grimmig: «Wo ist unsere Tochter?» Seine Frau erzählte ihm ängstlich, was geschehen war. Langsam ging der Räuber zum Teich und konnte es fast nicht glauben, was er da sah. Er behandelte den Fremden mit Respekt, ja geleitete ihn gar weit aus der Oase und liess alle Wegelagerer und Räuber unterrichten, dass diesem Mann mit eigentümlichem Vogel und Kamel freies Geleit gegeben werden müsse. 

Balthasar und Melchior
So kam es, dass Kaspar unbehelligt immer weiter nördlich entlang dem grossen Fluss ritt, bis er über Al Qantarah nach Rummanah Bir al Abd an ein glitzerndes Meer gelangte. Dort nahm er einen Pfad östlich und hielt sich an die Meeresküste. Sein Kamel blieb immer wieder stehen und blickte fasziniert auf das grosse Wasser, das sich sanft am Sandstrand brach. Kaspar trieb es nie an, denn er wusste, dass  es seinen eigenen Gedanken nachhing. Der Stern aber leuchtete und zeigte den Weg.   

Als Kaspar durch ein enges Tal ins Landesinnere ritt und über Berscheba nach Idumäa gelangte, bemerkte er plötzlich ein Räuchlein am Horizont. In dem Rauch schien ein besonderer Duft zu liegen, also folgte er ihm. Das Kamel ging immer schneller. Seine Nase weit in die Luft gestreckt, schien es voller Erwartungen zu sein. Kaspar wusste, dass es richtig war, das Tier gewähren zu lassen, denn es war weitaus feinfühliger als Menschen.

Da tauchten unvermittelt hinter einem Felsvorsprung zwei Kamele auf, die Blätter von Bäumen zupften. Klippschliefer wieselten über den Granitfelsen, während eine Bachstelze Richtung Flussbett flog. Aus dem Schatten im Felsen lösten sich zwei Gestalten, die langsam auf Kaspar zukamen. Einer nach dem andern verneigte sich mit der rechten Hand auf der Brust. «Ich bin Melchior aus Misan», sagte der eine und der andere: «Für Balthasar aus Shahazand ist es eine grosse Ehre, den weisen Kaspar aus Äthiopien kennenzulernen.» «Seid ihr auch dem Stern gefolgt?», wollte Kaspar wissen. «Ja, seit langer Zeit folgen wir dem Licht. Wir glauben, nahe am Ziel zu sein», erwiderten die beiden. «Der Erlöser, wir werden ihn sehen», murmelte Kaspar.

Besuch beim Jesuskind
Die drei Weisen zogen fortan gemeinsam weiter ihres Weges und sprachen bald im Palast des König Herodes vor. «Wo finden wir den neugeborenen König?», fragte Kaspar. Durch Herodes’ strenges, bärtiges Gesicht ging ein Zucken, das Kaspar nicht entging. Mit veränderter Stimme musste der Herrscher zugeben, dass er nichts davon wüsste, dass es einen neuen König gäbe, dass er aber sehr interessiert sei und er ihm auch gerne huldigen würde, wenn sie zu ihm zurückkämen und ihm verrieten, wo sie ihn gefunden hätten.  

Die drei Weisen folgten schweigsam dem Stern, der ihnen voranzog, bis sie in das Dorf Bethlehem kamen. Über einem erbärmlichen Stall blieb der Stern mit Schweif schliesslich stehen. Dort fanden die drei Weisen das Kind mit seiner Mutter Maria. Kaspar kniete vor der Krippe. Tränen der Freude kullerten über seine Wange während sein Kamel vom Heu im Stall zupfte. Nun aber flatterte Kasuku, der in dieser Nacht nicht dösen konnte, aus seinem Kistchen und landete direkt auf dem Rand der Krippe. Verwundert hielten Ochse und Esel ihre Köpfe auf und schauten dem sonderbaren Vogel zu. Kasuku aber liess sich nicht beirren und marschierte gravitätisch auf dem Krippenrand hin und her. Kaspar lächelte. 

Das Jesuskind blickte freundlich zum fremden Besucher, der jetzt direkt in die Krippe kletterte. Ein Ärmchen des Kindes griff nach dem wundersamen Vogel und berührte dabei seinen grauen Schwanz. Augenblicklich wurde er feuerrot. Seit diesem Ereignis haben Graupapageien leuchtend rote Schwänze und sind nicht mehr einfach nur graue Vögel. Ihr weiser Blick verrät, genauso wie die Blicke von Kamel, Ochse und Esel, dass sie mehr wissen als wir Menschen. Kasuku war nicht mehr zu halten vor Freude und pfiff dem Jesuskind frohe Melodien vor. 

Kaspar verschenkt den Papagei
Während Melchior und Balthasar der Heiligen Familie Gold, Weihrauch und Myrrhe schenkten, kam Kaspar mit leeren Händen zur Krippe. Er hatte unterwegs alles verschenkt. Kaspar sagte: «Ich bringe euch Kasuku, den euer Kind bereits ins Herzen geschlossen hat.» Maria und Josef bedankten sich gerührt, noch nicht wissend, wie wichtig Kasuku noch werden würde. Die Hirten waren gänzlich verwundert über diesen komischen Vogel, der nun sogar menschliche Stimmen nachahmte. 

Kaspar wusste jetzt, warum er diesen langen Weg auf sich genommen hatte, und konnte wieder zurückkehren in sein Dorf in den Bergen Afrikas. Er unternahm einen Umweg, genauso wie Melchior und Balthasar, damit sie keinesfalls Herodes oder seinen Schergen begegneten. In seiner Heimat berichtete er vom Kind, das die Welt verändern würde, und starb als alter, weiser Mann, der vielen Menschen und Tieren geholfen hatte. Sein Kamel überlebte ihn um einige Jahre. Es galt als besonderes Tier, das sich im Amarabergland frei bewegte und vor dem sämtliche Bewohner grossen Respekt hatten. 

Als die drei Weisen weggezogen waren, erschien Josef eine Stimme, die sagte: «Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter und flieh nach Ägypten!» Herodes nämlich war wutentbrannt, dass er das Kind nicht fand und dass die Weisen seiner Bitte nicht Folge geleistet hatten und nicht informiert hatten. Er sandte Soldaten aus mit dem Befehl, in Bethlehem und Umgebung alle kleinen Jungen bis zu zwei Jahren zu töten. Josef war mit Maria geflohen, doch Kasuku blieb zurück. Er hatte sich das Geschrei des kleinen Jesus genau eingeprägt. Wenn er nun Soldaten sah, so versteckte er sich und schrie wie ein kleines Kind. Sie suchten danach, um es zu töten, doch nirgendwo konnten sie es finden.

Rettung dank Kasuku
Kasuku, der längst stark und gesund war und wieder gut fliegen konnte, flog dann unbemerkt davon in einen anderen Winkel und begann sein Geschrei von Neuem. So konnte er viele kleine Kinder retten, die versteckt in Hütten und Häusern waren, denn die Soldaten folgten dem Kindergeschrei des Papageis. 

Die Heilige Familie gewann dadurch einen erheblichen Vorsprung, sodass sie sich nach Ägypten retten konnte und dort blieb, bis Herodes verstarb. Niemand, der Kasuku bei der Krippe gesehen hatte, wollte je verraten, dass auch ein Papagei dabei war, damit nicht auskam, dass dieser Vogel die Soldaten in die Irre geführt  hatte. Darum haben ihn alle verheimlicht, sodass der Papagei kein einziges Mal in der Bibel erwähnt wurde. Es wird berichtet, dass Kasuku später seinem Kaspar folgte und mit ihm alt wurde.