«Schliesst die Augen, kehrt einen Moment in euch.» Wie viele Yogalehrerinnen beginnt auch Irina Schumacher ihre Stunde mit einer kurzen Meditation. «Habt Vertrauen», sagt sie, während ich dem Rauschen des Bachs lausche, hier und da ein Spatz einen Tschilp von sich gibt und das sanfte Bimmeln eines Glöckleins stets ein wenig lauter wird.

Eine weiche Nase stupst mich aus der eben gefundenen Mitte ins Jetzt zurück. Die Nase, sie gehört einer Ziege, um deren Hals das Glöcklein baumelt. Drei derart ausgestattete Junggeissen befinden sich mit den Yogis und Yoginis auf einem abgetrennten Stück Weide. Irinas Yogastunde ist eben doch keine gewöhnliche, sondern – man ahnt es – eine Ziegenyogastunde. 

Das bedeutet, dass man während des Yogas von Ziegen umgeben ist. Die interessieren sich für Pullis, Yogamatten, ausgestreckte Arme und Beine, vor allem aber auch für Gras. So verbringen sie besonders zu Beginn viel Zeit damit, selbiges zu verspeisen – was auch der Corona-Pandemie geschuldet ist. «Die halbjährigen Gitzi sind noch etwas scheu», sagt Veranstalterin Nicole Buess. «Es ist ihr erster Kontakt mit Menschen nach dem Lockdown.»

 

Geissen sind tolle Tiere. Sie sind neugierig, lebhaft, intelligent – und witzig.

Nicole Buess
Veranstalterin Ziegenyoga

Aus den USA ins Engadin
Ziegenyoga nahm vor einigen Jahren in den USA seinen Anfang. Dank lustiger Videos auf Youtube entwickelte es sich schnell zum Hit. Buess hat den Trend in die Schweiz geholt, und zwar ins Oberengadin. Unsere Weide befindet sich bei einem Hof im Dorf Champfèr, eingebettet zwischen St. Moritz und Silvaplana. Hier kam Buess auf die Geiss. Jeden Tag sei sie beim Spazieren mit ihren Hunden an der Weide vorbeigekommen und habe mit den fünf jungen Geissböcken gesprochen, erzählt die gebürtige Baslerin, die seit 1992 im Engadin lebt, und fügt lachend hinzu: «Sie gaben mir Antwort!» 

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Als die Tiere dann hätten geschlachtet werden sollen, liess sie sich von Freunden und ihrer Familie zum 50. Geburtstag das Geld schenken, um sie dem Bauern abzukaufen. Das war vor drei Jahren. Mittlerweile bietet Buess mit «Mini Geiss – dini Geiss» nicht nur Yoga an, sondern auch Trekking und andere Geissenerlebnisse (siehe Box am Ende des Texts). Im letzten Herbst komplettierte sie ihre kleine Herde mit einem sechsten Ziegenbock.

Auf den Yogamatten wechseln wir nun ein- und ausatmend zwischen Kuh und Katze. Sollte es die Geissen stören, dass keine Ziegenposition dabei ist, lassen sie es sich nicht anmerken. Sie scheinen sich mittlerweile ein bisschen an uns gewöhnt zu haben und wagen sich näher, knabbern hier und dort. Immer wieder bimmeln von irgendwo her die Glöckchen – meist gefolgt von Lachen und Kichern. Ganz so ernst nehmen können wir die Sache nicht. Sollen wir natürlich auch nicht. 

Tiere streicheln wirkt auf Menschen beruhigend. Durch die Berührung des warmen, weichen Geissenfells überträgt sich ihre ruhige Atmung auf die Yogis.

Nicole Buess
Veranstalterin Ziegenyoga

Trotzdem nimmt Irina Schumachers Stunde Fahrt auf. Yoga hilft, den Geist zu fokussieren, ist aber auch ein wunderbares Training für den ganzen Körper. So strecken wir uns zum Trikonasana in eine Dreiecksform, biegen unsere Wirbelsäulen und grüssen die Sonne mitsamt der malerischen Bergkulisse. Für die vielen erprobten Yoginis in unseren Reihen besteht die grösste Herausforderung nicht darin, die Zehen zu berühren, sondern mit dem unebenen Boden zurechtzukommen. 

Und natürlich mit den Ziegen. «Bleibt bei euch», mahnt uns Irina zur Konzentration. Aber das ist gar nicht immer so einfach. Sobald es eine Position länger zu halten gilt und etwas Ruhe einkehrt, nähern sich die Ziegen gerne. Manchmal gucken sie uns auch nur an, als fragten sie sich, was diese Menschen da eigentlich treiben. Das frage ich mich auch, während ich seitlich auf dem Arm abgestützt unter grosser Anstrengung mein Bein in die Luft hieve – und gucke zurück.

«Geissen sind tolle Tiere», schwärmt Nicole Buess. «Sie sind neugierig, lebhaft und intelligent. Und sie sind witzig.» Wenn sie erzählt, sprüht sie nur so vor lauter Ziegen-Begeisterung. Und die ist ansteckend. Spätestens nach der Yogastunde sind wir überzeugte Geissenfans.

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Geissen kommen auf die Matte
Buess ist es wichtig zu betonen, dass die Ziegen beim Yoga freiwillig mitmachen. «Sie suchen den Kontakt, wenn sie es möchten. Wenn nicht, dürfen sie sich zurückziehen.» Dafür bietet die Yogaweide genug Platz. Das war auch der Grund, weshalb Irina einwilligte, Ziegenyoga zu unterrichten, denn erst war sie skeptisch. Doch die Ziegen müssen nichts tun, was sie nicht wollen. Die Tiere seien von Natur aus sehr «gwundrig», sagt Buess.

Überhaupt seien ihre Ziegen quasi von sich aus mit der Idee zu ihr gekommen. «Ich lag gerne im Sommer mit ihnen auf der Weide», erzählt Buess. Die Ziegen seien immer wieder zu ihr herspaziert, hätten sich sichtlich wohlgefühlt und sich zu ihr auf oder neben die Matte gelegt. Da entschloss sich Buess, es mit Geissenyoga zu versuchen. «Geis­sen und Yoga ermöglichen es, den Alltag und den Stress hinter sich zu lassen. Die Tiere geben Lebensfreude und Gelassenheit und bringen dich in ihre eigene ‹Geissenwelt›», sagt Buess. «Tiere streicheln wirkt auf Menschen beruhigend. Durch die Berührung des warmen, weichen Geissenfells überträgt sich ihre ruhige Atmung auf die Yogis.»

Wenn schon Yoga, dann Ziegenyoga.

Teilnehmer der Ziegenyogastunde

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In Champfèr neigt sich die Stunde ihrem Ende zu. Während des Shavasanas, der End­entspannung, geben die Gitzi noch einmal alles. Beim Shavasana, das auf Deutsch etwas weniger schön klingend Leichenstellung heisst, geht es darum, den Körper und den Geist komplett loszulassen. Alsbald jedoch werde ich in diesem Unterfangen von einem Geissenmaul gestört, das sich an meinem Fuss zu schaffen macht. Ich freue mich über die Aufmerksamkeit, die mir die Ziege schenkt. 

Unsere Gruppe ist sich einig: Geissenyoga ist ein einzigartiges Erlebnis. Für einen der Teilnehmer war es sogar die erste Yogastunde überhaupt. Er kennt also gar nichts anderes. «Wenn schon Yoga, dann Ziegenyoga», sagt er. Am Ende blickt man in lauter fröhlich strahlende Gesichter. Mit dem Sanskritgruss «Namaste» bedanken wir uns. Das Bimmeln der Glöcklein wird in unseren Köpfen wohl noch lange nachklingen.

Ziegenerlebnisse im EngadinMit «Mini Geiss – dini Geiss» führt Nicole Buess in Champfèr GR Ziegenyogastunden für Gruppen durch, unterrichtet von Yogalehrerin und Persönlichkeitscoach Irina Schumacher. Wegen der Covid-19-Sicherheitsmassnahmen ist die Gruppengrösse derzeit auf fünf Personen beschränkt. Ausserdem bietet sie verschiedene Ziegentrekkingtouren im Oberengadin an. Zusammen mit dem Pferdehof Engadin Galopp in Samedan lädt Buess Einheimische und Gäste jeden Freitag zur Hof-Tavolata und serviert lokale Spezialitäten.

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