Einen Moment lang scheint dicke Luft zu herrschen. Zwei Gämsfarbige Gebirgsziegen geraten aneinander. Sie stehen sich Kopf an Kopf gegenüber. Heben kurz die Vorderbeine und lassen die Schädel aufeinanderprallen. Dann ist der Spuk vorbei. Die beiden gehen ihres Weges – die Harmonie ist wiederhergestellt im Ziegenstall auf dem Lindenmatthof in Schötz LU.

Auf dem Betrieb im Luzerner Hinterland geht es nicht nur harmonisch, sondern auch unkompliziert zu und her. Das beginnt bei den Namen: Die Herren des Hauses, Grossvater, Vater und Sohn, heissen allesamt Thomas Hodel. Zweckmässigkeit ist auch das oberste Credo im Geissenstall, in dem etwas mehr als 40 Ziegen zu Hause sind – Milchgeis­sen der Rassen Saanenziege, Toggenburger und Gämsfarbige Gebirgsziege. «Wir haben ihn so konzipiert, dass es praktisch ist für uns», sagt Thomas Hodel, der Mittlere.

Ein Beispiel dafür ist das Ausmisten: Die Stallfläche ist rechteckig, an der Stirnseite kann ein breites Tor geöffnet werden, durch das vier Mal im Jahr ein Traktor mit einem Frontlader hereinfährt und die dicke Strohschicht auf dem Boden wegschaufelt. Durchdacht ist auch das Melksystem: Wird die Seitenwand des Stalles heruntergeklappt, erhalten die Ziegen Zugang zum erhöht liegenden Futterstand. «Wir locken sie zwei Mal am Tag mit Kraftfutter an den Futterplatz, wo sie fixiert werden», sagt Thomas Hodel junior. «Weil sie auf der Erhöhung stehen, brauchen wir uns beim Melken nicht zu bücken.»

Der Ziegenstall auf dem Lindenmatthof ist ein Laufstall. Ist nicht gerade Melkzeit, kann sich darin jedes Tier frei bewegen, nach Lust und Laune durch eine schmale Luke in einen Laufhof nach draussen schlüpfen, an einer von zwei Wasserstellen trinken oder sich an der breiten Futterkrippe etwas zum Knabbern holen.

Es ist noch gar nicht so lange her, da konnten Ziegen in der Schweiz von einer solchen Bewegungsfreiheit nur träumen: Auf Bauernbetrieben wurden traditionellerweise neben den Kühen nur einige wenige der Meckerer gehalten – und meist in Anbindehaltung. Seit knapp zehn Jahren jedoch weist der Weg in Richtung Laufstallhaltung: Die 2008 in Kraft gesetzte Tierschutzverordnung verbietet es, neue, ganzjährig betriebene Anbindeplätze für Ziegen einzurichten. Nur auf der Alp dürfen für die Sömmerung noch neue Anbindeställe gebaut werden.

Die Chefin hat immer Vortritt
Der Grund für die Vorschrift liegt auf der Hand: «Ziegen sind sehr bewegungsfreudige Tiere mit einem ausgeprägten Sozialverhalten. Beides wird in der Anbindehaltung verhindert», sagt Nina Keil, Ziegenspezialistin am Zentrum für tiergerechte Haltung von Wiederkäuern und Schweinen in Tänikon TG, das dem Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) angegliedert ist.

Trotzdem: Vollständig durchgesetzt hat sich der Laufstall noch nicht. Wer seinen Ziegenstall vor 2008 gebaut hat, darf die Tiere weiterhin anbinden. In seinem Tierschutzbericht 2016 schreibt das BLV: «Auch heute besteht die durchschnittliche Schweizer Herde aus 14 Ziegen und viele von ihnen werden weiterhin angebunden gehalten.» Eine aktuelle Statistik über die Zahl der Anbindehaltungen existiert zwar nicht, doch wer sich umhört, merkt schnell, dass viele Ziegenhalter bezweifeln, dass ein Laufstall in jedem Betrieb umsetzbar ist.

Wer verstehen will, worum es bei der Diskussion um die Machbarkeit von Ziegen-Laufställen geht, muss sich zuerst das Sozialverhalten dieser Tiere vor Augen halten. In einer Ziegenherde gibt es eine ausgeprägte Rangordnung. Ranghöhere Tiere haben Vortritt. Sie bestimmen, wo sie sich hinlegen, wann sie fressen und trinken. Rangniedrige Tiere müssen ausweichen. Tun sie dies nicht, wird die Hierarchie mit Horn- oder Kopfstös­sen geklärt – so wie unter den beiden Gämsfarbigen auf dem Lindenmatthof.

Die Anbindehaltung verhindert solche Auseinandersetzungen, indem sie jeder Ziege ihren eigenen Platz zuweist. In einem Laufstall hingegen kann es sein, dass ein ranghohes Tier ein rangniedriges verletzt – oder es ständig von der Futterkrippe vertreibt, sodass dieses unter Stress oder gar unter Futtermangel leidet. 

Obwohl er selber einen Laufstall hat, versteht Thomas Hodel, der Mittlere, solche Bedenken. Er ist Vorstandsmitglied im Schweizerischen Ziegenzuchtverband und hat als Experte schon Ziegen im ganzen Land bewertet. «Es gibt schon Beispiele, in denen eine Freilaufhaltung schwierig ist», sagt er. Entscheidend seien etwa die Platzverhältnisse und die Gruppengrössen. «Oft hält jemand drei, vier Ziegen in einer ehemaligen Pferdebox.» Die gesetzlich vorgeschriebene Fläche pro Tier wird dabei zwar längst eingehalten. «Aber wenn die rangniedere Ziege ausweichen will, hat sie zu wenig Platz», sagt Hodel, «sie stösst auf allen Seiten gleich an eine Wand.»

Ein weiterer, sehr wichtiger Punkt ist laut Hodel die Enthornung. Er selber enthornt seine Geissen, wobei er betont, dass dieser Eingriff fachgerecht und unter Schmerzausschaltung durchgeführt werden müsse. Es gibt aber Ziegenrassen, etwa die Walliser Schwarzhalsziege oder die Nera Verzasca, bei denen der Rassenstandard Hörner vorschreibt. «Ein Laufstall mit gehörnten Geissen ist sehr schwierig», sagt Hodel. Er kenne zum Beispiel den Fall eines Halters, der Saanenziegen mit Hörnern in einem Laufstall gehalten habe. «Eines Tages hatte er eine Ziege mit einem gebrochenen Bein im Stall, bald darauf eine zweite. Er konnte sich das nicht erklären.» Erst beim dritten Fall sei dem Halter ein Licht aufgegangen. «Ein ranghohes Tier hatte bei Auseinandersetzungen jeweils das Bein eines rangniederen zwischen seine Hörner genommen und so stark hin- und hergeschüttelt, dass es brach.»

Sichtschutz bringt Sicherheit
Nina Keil hat schon diverse Forschungsprojekte geleitet, die sich mit den Schwierigkeiten in der Laufstallhaltung bei Ziegen auseinandersetzten. Sie räumt zwar ein, dass nicht alle Fragen geklärt seien. Trotzdem sagt sie: «Es spielt sich alles im Kopf ab.» Und meint damit die Einstellung des Ziegenhalters. Wer wirklich wolle, dass sein Laufstall funktioniere, der werde das auch schaffen, sagt sie. Was nicht gehe, sei etwas zu erzwingen, das wider die Natur der Ziege sei. «Man muss sich mit dem Verhalten des Tieres auseinandersetzen, zu verstehen versuchen, was Ziegen brauchen und wie sie miteinander kommunizieren.»

Keil stimmt Hodel zu, dass die Laufstallhaltung in sehr kleinen Gruppen mit wenig Platz schwieriger ist als in grösseren Gruppen. Aber man könne auch in kleinen Ställen möglichen Auseinandersetzungen vorbeugen – mit einer ziegengerechten Einrichtung. «Podeste aus Holz oder Stapel aus Strohballen etwa bieten Sichtschutz und Ausweichmöglichkeiten», sagt Keil. Sobald sie einander nicht mehr sähen, könnten nämlich selbst Ziegen auf engem Raum zusammen sein, die sonst niemals nebeneinander stehen, liegen oder fressen würden.

Auch die Hörner sind laut Keil kein unüberwindbares Hindernis für einen Laufstall. Zwar stimme es, dass man die Verletzungsgefahr durch die Hörner besonders beachten müsse, tatsächlich gebe es zum Beispiel Fälle, in denen Ziegen die Beine von Konkurrentinnen zwischen die Hörner nähmen, sagt sie. Aber man müsse sich immer auch fragen, weshalb es zu solchen Vorfällen komme. «Ziegen tragen ihre Auseinandersetzungen von Kopf zu Kopf aus. Wenn eine ein Hinterbein zwischen ihre Hörner bekommt, könnte es sein, dass die Kontrahentin zu wenig Platz zum Ausweichen hatte und in eine Sackgasse geriet.»

Dass behornte Ziegen aggressiver seien als unbehornte sei jedenfalls ein Vorurteil. «Unsere Forschungen haben gezeigt, dass das nicht stimmt.» Bei behornten Ziegen würden Auseinandersetzungen sogar öfter ohne Körperkontakt ablaufen als bei unbehornten. «Es reicht häufiger schon ein Drohen der ranghohen Ziege, damit die rangniedrige ausweicht», sagt Keil. Bei unbehornten Ziegen komme es dagegen häufiger zu Kopfstössen in den Rumpf oder zu einem gegenseitigen Wegdrängen.

Neue Tiere haben schweren Stand
Einig sind sich die beiden Experten, dass die Ziegen in einem Laufstall aneinander gewöhnt sein müssen. Thomas Hodel zeigt auf ein Grüppchen von Saanenziegen, die eng aneinandergeschmiegt im Stroh liegen. «Die sind immer beieinander, es sind quasi Kolleginnen, weil sie miteinander aufgewachsen sind.» Fremde, neue Tiere hingegen würden oft nur sehr schlecht akzeptiert.

Das liege wohl in den Genen, ergänzt Nina Keil. «Soviel wir wissen, bilden Wildziegen äusserst stabile Kerngruppen, es kommen kaum neue Tiere von aussen dazu.» Sie empfiehlt Haltern, ihre Herden möglichst mit mehreren Ziegen aufs Mal zu ergänzen – und zwar im Sommer, weil dann auf der Weide viel Platz zum Ausweichen vorhanden ist.

Zumindest auf dem Lindenmatthof hat der Laufstall nicht nur für die Ziegen Vorteile. «Wir haben weniger zu tun», sagt Thomas Hodel. «Im Anbindestall, der früher auf dem Hof stand, mussten wir täglich ausmisten, weil die Ziegen immer an derselben Stelle standen.» Zudem erkenne er im Laufstall rascher, ob es seinen Tieren gut gehe. «Ein geschultes Auge sieht sofort, wenn sich eine Ziege seltsam bewegt oder sich von den anderen absondert.» Und dann seien da noch die Anreize durch den Bund, ergänzt der Junior. Wer einen Laufstall hat, erhält Beiträge für eine besonders tierfreundliche Haltung.