Australien ist seiner Weite wegen eines der Sehnsuchtsziele vieler Schweizerinnen und Schweizer. Andere schätzen den Wein von dort und das Lammfleisch. Der Exportschlager schlechthin aber ist Wolle – vor allem die flauschig-weiche der Merino, die weit mehr als die Hälfte der 70 Millionen Schafe Australiens ausmachen. Die Marktmacht des Landes ist regelrecht erdrückend mit 75 Prozent bei der Wolle allgemein und über 90 Prozent bei der feinen Merino-Wolle für die globale Bekleidungsindustrie.

Merino-Wolle wird längst nicht mehr nur zu Pullover und anderer Winterbekleidung verarbeitet. Hoch im Kurs ist sie vor allem bei Sportlerinnen und Wanderern. Im Gegensatz zu synthetischen Materialien ist Merino-Wolle atmungsaktiv. Sie gleicht Feuchtigkeit und Temperatur aus und isoliert. Weil sie das Wollwachs Lanolin enthält, das für seine antibakteriellen Eigenschaften gerühmt wird, können Outdoor-Begeisterte Merino-Unterwäsche oder -Shirts stundenlang tragen, ohne unangenehme Gerüche zu verströmen.

Steht also auf dem Etikett «mit feiner Merino-Wolle» glauben viele, sie würden sich für ein gutes Naturprodukt entscheiden. Doch dies hat einen Haken. Millionen Merino-Jungtiere werden einer Prozedur unterzogen, die Tierschutzorganisationen wie Vier Pfoten als tierquälerisch brandmarken: dem Mulesing. Dabei befestigen die Halter ihre zwei bis zehn Wochen alten Lämmer in Metallgestellen und schneiden am Hintern Hautstücke heraus. Meist kupieren sie dann noch die Schwänze und kastrieren die männlichen Tiere.

Dies alles passiert bei vollem Bewusstsein der Lämmer. Die Tiere müssen diese Qualen erleiden, weil die Rasse auf möglichst viele Hautfalten gezüchtet wurde, um noch mehr Wolle zu generieren. Deshalb ist das ursprünglich aus dem trockenen Nordafrika stammende Merino im feucht-warmen Klima Australiens besonders anfällig für die Fliegenmadenkrankheit Myiasis.

«Mulesing ist überholt und aus Tierschutzsicht nicht akzeptabel»

Vier Pfoten

Verbot beim Nachbarn Neuseeland
Schmeissfliegen legen ihre Eier in den feuchten und von Exkrementen verschmutzten Hinterteilen der Schafe ab. Schlüpfen die Maden, fressen sie sich in das Fleisch hinein, was zu Infektionen und sogar zum Tod führen kann. Dies will man mit Mulesing verhindern. Zwar bekommen immer mehr Lämmer danach Schmerzmittel. Dennoch bleiben Wunden, die erst nach Wochen ver­heilen und die ebenso anfällig für einen Larvenbefall sein können wie andere Körperregionen mit Hautfalten. Vorbeugend behandeln manche Züchter ihre Schafe deshalb mit Chemikalien.

Die Australier stellen sich auf den Standpunkt, dies alles sei zum Wohl der Tiere. Doch der Kreis der Gegner wird immer grösser, seit Tierschutzorganisationen das Thema Mulesing aufgegriffen haben. 2004 boykottierte das US-Unternehmen «Abercrombie & Fitch» auf Druck der Tierschutzorganisation Peta australische Merino-Wolle. Britische und schwedische Unternehmen schlossen sich an. Die Wollindustrie Australiens erlitt Umsatzeinbrüche, hält aber grösstenteils an der im Land legalen Praxis fest.

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«Man kann von 3000 bis 4000 zertifiziert Mulesing-freien Betrieben ausgehen», erklärt Yasmine Wenk, Campaignerin bei Vier Pfoten Schweiz. «Aber über 30'000 Schafhalter betreiben es immer noch.» Während die Australier ihren Beschluss, Mulesing ab 2010 zu beenden, nicht um- und auch keinen neuen Termin setzten, handelte Nachbar Neuseeland: Seit Oktober 2018 ist Mulesing verboten. Wer dabei erwischt wird, muss mit Strafen von umgerechnet 3000 bis 15'000 Franken rechnen. Auch in Südafrika oder Argentinien ist die strittige Methode nicht mehr erlaubt.

«Mulesing ist überholt und aus Tierschutzsicht nicht akzeptabel», ist man bei Vier Pfoten überzeugt. «Mit dem Rückzüchten zu ‹plain› oder ‹smooth-bodied› Schafen, die weniger oder keine Hautfalten haben, gibt es Alternativen», betont Wenk. Über 3000 australische Wollproduzenten hätten dies bereits getan. Für Wenk ein Zeichen dafür, dass «Merino ohne Qualzucht» durchaus geht.

Merino-Produkte zu finden, für die Schafe nicht leiden mussten, ist für Konsumenten dennoch nicht einfach. Dies zumal es der Bundesrat in einem Bericht kürzlich ablehnte, die Deklarationspflicht für Mulesing-Wolle weiterzuverfolgen. Er setzt vielmehr auf eine Positivdeklaration.

Auf die Zertifizierungen achten
Dies macht Vier Pfoten mit ihrer Kampagne «Wolle mit Po». Hier sind über 180 Marken gelistet, die sich gegen Mulesing positionieren. 60 Firmen sind weiter: Sie haben sich verpflichtet, in den nächsten Jahren schrittweise Mulesing-frei zu werden. Die 1995 gegründete neuseeländische Marke Icebreaker brach sprichwörtlich das Eis und verbot ihren Lieferanten Mulesing. Ein weiteres Vorzeigeunternehmen ist laut Yasmine Wenk Ortovox: «Die deutsche Firma überprüft die Schafhalter in Tasmanien, die ihr Merino-Wolle liefern, jährlich und kennt somit ihre gesamte Lieferkette.» Dies sei der Idealfall. Die Schweizer Marke Mammut werde den Responsible Wool Standard (RWS) bis 2025 für all ihre Merino-Produkte umsetzen.

Der RWS ist das strengste Rückverfolgbarkeits- und Transparenzsystem. Strenge Zertifizierungen sind laut Wenk auch ZQ Merino, Nativa oder New Merino. Teilweise stehen die Zertifikate auf den Etiketten. Wenk rät Kundinnen und Käufern, auf der Markenwebsite nachzuschauen oder im Laden nach einem Zertifikat zu fragen. Bio-Wolle sei eine Option, aber nicht, wenn sie aus Australien komme. Dessen nationaler Bio-Standard schliesse Mulesing nicht komplett aus.

Der Kunde hat es selbst in der Hand
Die Outdoorbranche, deren Kundschaft oft sehr naturverbunden sei, bemühe sich sehr, sagt Wenk. Auf der anderen Seite seien die umsatzstarken Marken der Luxusbranche sehr rückschrittlich, wenn es darum gehe, proaktiv zu handeln, wie es Wenk ausdrückt. «Uns ist aber wichtig, dass die gesamte Textilbranche Mulesing-frei wird.» Deshalb werde Vier Pfoten nächstes Jahr ein Ranking veröffentlichen, das zeige, wie weit welche Marke sei. Dass ein Umstieg nicht von heute auf morgen geschehen kann, sei klar, sagt Wenk. Aber eine Verpflichtung zur Auslistung innert einer Frist, wie es Mammut macht, gebe den Schafhaltern in Australien die Zeit zur Umstellung, die drei bis fünf Jahre dauert.

Und sie ist auch eine Forderung von immer mehr Kunden. Aus Sicht des Tierschutzes seien pflanzliche Produkte aus Bambus, Baumwolle oder Leinen am besten, betont Wenk. Wer dennoch Merino kaufen will, hat es aber auch in der eigenen Hand, dass dafür keine Schafe gequält wurden.