Normale Kinder können mit einem Blick eine Katze von einem Hund unterscheiden. Nicht so Temple Grandin – als sie klein war, musste sie erst lernen, die beiden Tierarten an ihrer Nasenform zu erkennen. Als Autistin nimmt sie viele Details statt des Ganzen wahr. Diese Eigenschaft machte ihr das Leben manchmal schwer, doch sie schaffte damit eine grosse Karriere. Inzwischen ist sie Dozentin an der Colorado State University und die wohl bekannteste Expertin für das Verhalten und das Wohl von Nutztieren in den USA.

Als sie in den Siebzigern begann, ihre Ideen zur Verbesserung der Nutztierhaltung kundzutun, stiess sie bei den Viehzüchtern auf Unverständnis. Elektroschocks und Schreie waren damals die Mittel, um störrische Rindern dorthin zu treiben, wo man sie wollte. Grandin hingegen ging selber in die Kuhgatter hinein und beobachtete, dass die Angst der Rinder auf Details wie Schatten, Plastiksäcke oder Lichtreflexe zurückzuführen war und sich somit vermeiden liess. Tieren würden in Bildern denken, sagt sie – und selber denke sie eben auch in Bildern, statt wie normale Menschen in Begriffen. Deshalb falle es ihr leichter, Tiere zu verstehen.

McDonalds als Vorreiter für Tierwohl
Es waren nicht etwa die Viehzüchter, sondern die Nahrungsmittelindustrie, bei der ihre Ideen zuerst auf Gehör stiessen. Als Beraterin bei McDonalds (später auch bei Burger King und anderen Fast-Food-Ketten) erwirkte sie, dass deren Zulieferer ihre Mastbetriebe und Schlachthöfe nach ihren Entwürfen gestalteten, bei denen sie eben auch auf Details wie den Schattenwurf achtete. Und siehe da: Auf den von ihr entwickelten Anlagen zeigten sich die Tiere viel weniger störrisch als gewohnt. Das war nicht nur im Sinne der Fleischproduzenten, sondern auch der Tierschützer.

Temple Grandin isst Fleisch, möchte aber, dass die Tiere im Schlachthof möglichst angstfrei sterben. Sie zeigt sich überzeugt, dass die Rinder auf dem Weg zur Schlachtbank nicht wissen, dass sie sterben werden – vielmehr sei nervöses Verhalten auf Reize in Zusammenhang mit den neuen Ort zurückzuführen. «Ich beobachtete Rinder im Schlachthaus, auf dem Bauernhof und beim Tierarzt», sagte sie 2012 in einem Interview gegenüber der «Tierwelt». «Das Verhalten war immer dasselbe. Wenn sie wüssten, dass sie geschlachtet werden sollen, würden sie sich im Schlachthof viel wilder verhalten.»

Schlägereien in der Schule
Am Samstag, 29.8.2015, wurde Temple Grandin 68 Jahre alt. Als Kind hätte sie nach Ansicht der Ärzte in ein Heim gehört. Das Sprechen lernte sie erst als Vierjährige. Ihre Mutter entschied sich aber, das Mädchen zu Hause zu behalten und privat zu fördern. Trotz grossen sozialen Schwierigkeiten – Temple Grandin geriet in den höheren Schulen immer wieder in Schlägereien – konnte sie ein Studium absolvieren und erlangte 1989 den Doktortitel in Tierwissenschaften. Inzwischen ist sie Dozentin für Nutztierverhalten und -wohlergehen.

Einem breiteren Publikum wurde sie durch die Verfilmung ihrer Biografie bekannt. Für die Hauptrolle in «Temple Grandin» (deutscher Titel: «Du gehst nicht allein») aus dem Jahr 2010 erhielt die Schauspielerin Claire Danes einen Golden Globe – und viel Lob von Temple Grandin, die den Film als sehr treffend bezeichnet. Grandin ist inzwischen nicht nur als Expertin für Tierwohl bekannt, sondern auch, weil sie an Kongressen und in den Medien der Öffentlichkeit immer wieder zeigt, dass Autismus nicht nur eine Behinderung, sondern auch eine Gabe ist, mit der sich ein ausgesprochen produktives Leben führen lässt. 

Temple Grandin hat mehrere Bücher verfasst. In einem davon geht es um ihre Fähigkeit, Tiere zu verstehen:

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«Ich sehe die Welt wie ein frohes Tier – Eine Autistin entdeckt die Sprache der Tiere»
Taschenbuch
372 Seiten
Verlag Rad und Soziales 2015
ISBN 978-3-945668-10-8
ca. 23.-