Für Stephan Wagner ist der sonnige Wintertag ein besonderer. Auch wenn er sich seit geraumer Zeit auf diesen Schritt vorbereiten konnte und froh ist, dass er eine ideale Nachfolgelösung für seine Kaschmirziegenherde gefunden hat, fühlt es sich doch nicht ganz so leicht an, als die Herde seiner schneeweissen Ziegen vom Stall her zu seinem Wohnhaus trippelt. Während Landwirt Johannes Sutter die Kastraten von den Böcken trennt und sie zur Herde bringt, schaut Wagner gespannt zu. Nun ist er nicht mehr für die Herde verantwortlich. «Ich bin wohl noch Eigentümer der halben Herde, aber nicht mehr Halter», präzisiert er, während die rund 70 Tiere mit ihrem neuen Chef in Richtung ihres neuen Zuhauses in Hemberg SG davontrotten.

Seit 20 Jahren lebt der selbstständige Physiker und Informatiker auf dem sieben Hektaren grossen Betrieb, der früher bereits seinem Grossvater gehörte. Zuvor hat Wagner vieles andere gemacht im Leben, Landwirt wurde er erst, als die ersten Tiere bei ihm Einzug hielten. Ein gewöhnlicher Landwirtschaftsbetrieb wäre für ihn nie in Frage gekommen. «Ich wollte ein Tier, das sowohl intensiv als auch extensiv gehalten werden kann und mit dem man Produkte im Hochpreissegment herstellen kann», schildert er seine Motivation. «Zudem liebe ich den Blick hinter den Horizont, ich will wissen, was dahinter ist – genau wie die Geiss.» 

Nach der Evaluationsphase – er hatte auch lange mit Yak, Lama, Alpaka oder Kamel geliebäugelt – kaufte er sich drei Kaschmirziegen aus Schottland und importierte 2006 von dort Sperma. Der Verband «Alpine Cashmere Association» (ACA) wurde 2009 gegründet und lange von ihm präsidiert. Wagner hatte mit gut 70 Ziegen und einer rechten Anzahl Böcken eine der grösseren Herden in der Schweiz. Im Oberwallis lebt die grösste Herde mit rund 120 Ziegen. Insgesamt zählt man in der Schweiz ungefähr 500 Kaschmirziegen. 

Alles der Ziegen verwerten
Wagner ist ein Pionier. Sein Hof war einer der wenigen Betriebe weltweit, die hochwertiges, geprüftes Kaschmir in Demeter-Qualität anboten. Bei ihm saugten die Gitzi drei bis vier Monate bei den Müttern, danach wurden die Böcklein in die Bockherde integriert. Die jungen Ziegen wurden erst mit zwei Jahren erstmals gedeckt, da sie früher noch nicht ausgereift waren. So wuchsen die Tiere auch langsamer als die heimischen Ziegen, genetisch wohl ein Tribut an die magere Futterbasis ihrer ursprünglichen Heimat in den Kälteebenen Zentralasiens.

Der lange Weg von der Ziege zum GarnMan darf erst von Kaschmir sprechen, wenn der Durchmesser der Wollfaser weniger als 19 Micron (Tausendstelmillimeter) aufweist. Das Messen der Wollqualität einzelner Tiere ist für die Zucht­auswahl wichtig. Die Haarqualität vererbt sich. Pro Tier fallen im Jahr 300 bis maximal 500 Gramm Rohwolle an, davon kann 100 bis 300 Gramm als Kaschmirfasern verwertet werden. Rohwolle wird zuerst gewaschen. In einem zweiten Schritt wird das feine Kaschmir von den Deckhaaren und dem Schmutz getrennt, was von Hand sehr zeitaufwendig ist.
Die Rohwolle der Mitglieder der «Alpine Cashmere Association» wird von der Naturfasermühle in der Nähe von Chemnitz in Deutschland verarbeitet. Sie übernimmt entweder nur das Spinnen oder
die ganze Verarbeitung inklusive Waschen, Karden, Spinnen und Zwirnen. Nach dem Kämmen und Karden ist das Kaschmir als Vlies oder als Kardenband zum Weiterverarbeiten bereit. Kaschmir eignet sich gut zum Handspinnen, was hingegen eine besondere Fertigkeit verlangt. Das meiste Garn wird hingegen maschinell versponnen und später zum Weben und Stricken verwendet. 

Aus ethischen Überlegungen sei es ihm immer ein Anliegen gewesen, möglichst alles zu verwerten, was die Ziegen ihm schenken. Seine Partnerin molk im Frühjahr während zwei Monaten die Milch und machte daraus Hartkäse. Ein Teil der Milch wurde für Kosmetikprodukte verwendet. Das Fleisch der Weidegitzi eignet sich zum Niedergaren, jenes der älteren Tiere wird in einer Bauernmetzgerei in Ebnat-Kappel SG zu Mostbröckli und Trockenwürsten verarbeitet. Schliesslich kann auch die Haut zu Fell, Leder oder Pergament verarbeitet werden. Diese Produkte waren nur saisonal verfügbar.

«Im Zentrum stand immer das Kaschmir», sagt Wagner und meint damit die Unterwolle der Kaschmirziege, die weicher, wärmer und feiner sei als Schafwolle. Bis ein edler Schal oder ein Pullover auf dem Tisch liege, brauche es viel Arbeit, Zeit und Geld (siehe Box). Für Wagner ist der Griff des Kaschmirs entscheidend, das Gefühl, das die Faser in der Hand und auf der Haut vermittelt. 

Wagner weiss, dass der Markt für diese Luxuswolle in der Schweiz vorhanden ist: «Kunden wollen Produkte mit Mehrwert und dafür bezahlen sie auch.» Er freut sich, dass der Verband als treibende Kraft viel bewirken konnte. So habe sich die Anzahl Tiere stark erhöht und die Absatzkanäle seien massiv verbessert worden. Für Wagner ist es aber wichtig, dass die Ziegenhalter das Heft nicht aus der Hand geben. «Wir müssen bei der Verarbeitung dabei sein und das Kassieren nicht den anderen überlassen.»

Vermarktung mit Emotionen
In der Zwischenzeit haben Johannes Sutter, seine Frau Ann-Kathrin und zwei ihrer drei Kinder die Ziegen von Stephan Wagners Haus auf die Strasse getrieben. Mit dabei ist Wagners Hütehündin Gwen, deren Alter mit ein Grund ist, die Herde abzugeben. Wagner, der in ein paar Jahren pensioniert wird, macht sich Gedanken über das Älterwerden auf dem abgelegenen Hof. Auch seine zwölfjährige Hündin sei nicht mehr die Jüngste, und wenn er die Herde behalten hätte, müsste er einen neuen Hund suchen und ihn in die Arbeit mit den Geissen einführen.

Die Lösung mit Johannes Sutter, der seit ein paar Jahren Kaschmirziegen von ihm habe, sei ideal: «Ich werde bei Bedarf aushelfen, kann die Herde jederzeit besuchen und auch meine Ställe werden weiterhin genutzt.»

Sutter seinerseits freut sich, dass er die Herde vom Schweizer Kaschmir-Pionier übernehmen kann. Er ist in einem 50-Prozent-Pensum als Sozialpädagoge beim Sonderschulinternat Hemberg angestellt und bewirtschaftet dessen landwirtschaftlichen Betrieb als Pächter. Eben wurde für die Ziegen ein neuer Stall erstellt. Zusammen mit den Schülern hat Sutter Klettermöglichkeiten für die Geissen gebaut.

Er rechnet damit, dass er von den 39 gedeckten Ziegen im Frühjahr um die 50 Gitzi zu vermarkten hat. Bislang hat die Familie Sutter Rinder, Lämmer und Eier ab Hof verkauft, für die Gitzi müssen sie möglicherweise neue Kanäle finden. Doch sie sind überzeugt, dass die Vermarktung mit Emotionen, Geschichten rund um das Tier mit der wertvollen Wolle, der Haltung auf dem Biobetrieb und nicht zuletzt durch das schmackhafte, Fleisch gelingen wird.