Auf 1200 Metern Höhe, hoch über Habkern BE, auf halbem Weg zum Augstmatthorn, stapft Peter Deflorin in Gummistiefeln in Richtung Ziegenstall. Er drückt das Weidenetz nach unten und steigt mit einem grossen Schritt drüber. «Für sie hier ist das überhaupt kein Hindernis», sagt er. Er zeigt auf eine graubraune Ziege, die ihn gleich stürmisch begrüsst. «Sie springt oft raus, geht aber nie weit. Schliesslich hat sie die Mutter hier drin und die kann nicht so hoch springen.

Die halbstarke Ziege ist ein Hybrid (siehe «Tierwelt» Nr. 31 / 2018). Ihr Vater war ein Steinbock. Auf den ersten Blick ist sie kaum von einer Hausziege zu unterscheiden. Wie zum Beweis packt sie der Alphirt und hebt ihre Vorderbeine in die Luft. «Ein weisser Bauch, das ist typisch Steinbock! Und der weisse Spiegel», fährt er fort und zeigt auf das Hinterteil der Ziege, «auch typisch Steinbock!»

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Im Verhalten dringt der Steinbock durch
Am eindeutigsten sehe man ihre Steinbock-Gene allerdings im Verhalten. «Hier auf der Weide ist sie ruhig, aber wenn du die in den Felsen siehst, dann macht das einfach Spass.» Deutlich vitaler als eine Hausziege sei der Mischling, balanciere steinbockgleich über Stock und Stein, springe aus dem Stand zwei Meter in die Höhe. «Und auch wenn die Alp auf 2000 Meter oben ist, die brauchen keinen Stall. Die sind richtig zäh.»

Das Geissenlabor im Glarnerland
Peter Deflorin sömmert jedes Jahr auf einer anderen Alp, wo er zu seiner Rinderherde schaut und ein paar seiner eigenen Ziegen grasen lässt. Nächsten Frühling will der Bündner mit seinen beiden Hybridziegen – die zweite verbringt diesen Sommer anderswo – züchten. Dass das funktioniert, daran hat er überhaupt keinen Zweifel. Schliesslich klappt es bei seinem «Ziegenvater» auch. Felix Widmer aus dem Glarnerland, sagt Deflorin, sei sein grosses Vorbild. Und der züchte schon seit Jahren Steinbock-Ziegen-Hybriden. Von ihm stammt auch die Mischlingsziege im Stall ob Habkern.

«Geissenlabor» nennt Felix Widmer seine Alp im Glarner Kärpfgebiet. Er erzählt, wie er dazu gekommen ist, Hybriden zu züchten: «Mir hat es die Ziege angetan. Das Tier interessiert mich viel mehr als die Produkte, die daraus entstehen.» Im Selbststudium hat sich der ehemalige Lehrer weitergebildet, hat von Ziegenkreuzungen erfahren, Arbeiten über Steinböcke gelesen und bald den Wunsch verspürt, einen Steinbock-Hausziegen-Hybriden bei sich zu haben.

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Schliesslich erlaubte ihm der Betreuer eines Tierparks, eine seiner Ziegen vorbeizubringen und von einem Steinbock decken zu lassen – die ersten Hybridenzwillinge waren geboren. Eine andere Kreuzung entstand aus einer Toggenburgerziege im Wallis. «Die ist jedes Jahr im Herbst ausgebrochen und zu den Steinböcken hoch.» Irgendwann sei sie an einer Verletzung gestorben; Widmer durfte die Jungtiere haben. Eins von ihnen war denn auch die Stammgeiss für seine Hybridzucht. 

Inzwischen hat Widmer eine ganze Herde Hybridziegen. Er verpaart Mischling mit Mischling, was ihm zufolge problemlos klappt. Um Inzucht zu vermeiden, holte er sich vor fünf Jahren einen neuen Bock in die Herde. Einen 75-prozentigen Steinbock aus Österreich, wo es laut Widmer einen grossen Markt für diese Hybridtiere gibt. «Da gibt es Anzeigen noch und noch», sagt er.

Widmer ist sich bewusst, dass seine Hybridzucht nicht überall gut ankommt. «Rasseziegenzüchter haben gar keine Freude daran», sagt er. Und auch in Sachen Rechtslage steht und fällt seine Zucht mit dem Wohlwollen der Kantonsbehörden. «Ich habe einen guten Kontakt mit der Wildhut. Sie haben gemerkt, dass sie sich auf mich verlassen können», sagt er. «Und ich schädige damit niemanden.» Er weiss aber auch, dass er ein Ausnahmefall ist. Eigentlich werden Hybriden gehandhabt wie Wildtiere, und die bedürfen einer speziellen Haltebewilligung.

Eine verschworene Gesellschaft
Problematisch wird es dann, wenn seine Hybriden sich mit wilden Steinböcken paaren und sich dadurch genetisch mit ihnen vermischen. «Aber ich habe da keine Bedenken», sagt Widmer bestimmt, obwohl er seine Hybriden nie einzäunt, sondern frei auf der ausladenden Alp herumziehen lässt. Für sein Argument spricht zweierlei: Erstens werden Steinböcke erst sehr spät im Jahr brünftig, dann, wenn die Ziegen meist längst wieder im Tal sind. «Zweitens hat ein Hybrid gegen einen Steinbock im Paarungskampf keine Chance.»

Felix Widmer ist zwar der Hybridziegen-Pionier der Schweiz, doch er und Peter Deflorin sind nicht die Einzigen, die Freude an der ungewohnten Kreuzung haben. Widmer zählt ein halbes Dutzend Namen aus allen Ecken der Schweiz auf. Eine verschworene, kleine Gesellschaft, die im Halbversteck Freude an den Steinbock-Hausziegen-Hybriden hat. «Und es gibt bestimmt noch mehr davon», sagt der Glarner. «Aber die meisten haben Bedenken wegen der Legalität, deshalb reden sie nicht davon.»

Auch Peter Deflorin ist sich der Verantwortung bewusst, die er trägt, wenn er im nächsten Frühling Hybriden züchten will: «Etwas gernhaben ist das eine, aber ich muss sie im Griff haben», sagt er. Heisst: Er muss seine Hybriden im Herbst wieder vom Berg kriegen, damit sie sich ja nicht in die wilde Steinbockpopulation mischen. Deshalb wird er sie von Geburt an auf sich prägen. Damit sie ihm so gut folgen, wie die halbstarke Hybridgeiss vor dem Stall im Schatten des Augstmatthorns.

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