Über 186'000 Kilogramm Milch hat Holsteinkuh Haiti in ihrem langen Leben bereits gegeben. Damit ist sie eine Ausnahmeerscheinung, denn keine noch lebende Kuh in der Schweiz hat mehr Milch gegeben als sie. Und noch immer – trotz ihrer 19 Jahre – gibt sie jeden Tag 20 Kilogramm Milch. Dies, obwohl sie im Februar 2014 zum letzten Mal ein Kalb zur Welt gebracht hat. Das ist wirklich erstaunlich. Hochleistungskühe gelten in der Regel nicht gerade als langlebig. Doch Haiti beweist allen das Gegenteil. Jeden Tag geht sie auf dem Betrieb der Familie Wyss im bernischen Grasswil noch auf die Weide, wenn auch nicht mehr ganz so schnell. Und ebenfalls jeden Tag läuft sie zwei Mal zum Melkstand – in ihrem eigenen Tempo. Dabei hat sie noch immer Schabernack im Kopf. «Wenn sie sich unbeobachtet fühlt, macht sie auch schon mal einen Abstecher in den Kälberstall und stiehlt dort Flockenfutter», sagt Besitzerin Susanne Wyss, die gemeinsam mit ihrem Mann Markus den Milchwirtschaftsbetrieb bewirtschaftet. Man merke den unheimlich starken Willen, den diese spezielle Kuh habe. 

Letzten Winter ist Haiti drei Mal ausgerutscht und hingefallen, doch ist sie immer sofort wieder aufgestanden. Dies trotz der Probleme, die sie mit dem hinteren rechten Bein hat. Wie wir Menschen werden auch Kühe altershalber von Arthrose geplagt. Doch Haiti lässt sich nicht beirren. «Sie weiss ganz genau, wie sie aufstehen muss, und schafft dies nach wie vor in einem einzigen Schwung», sagt Tochter Michelle Wyss, die gemeinsam mit drei Geschwistern auf dem Hof aufgewachsen ist. Die leichte Einschränkung im Bein scheint gut erträglich zu sein, denn Haiti frisst immer noch die volle Ration und gibt unverändert viel Milch. 

Zu ihren besten Zeiten hat Haiti in der Startphase der Laktation jeweils rund 60 Kilogramm Milch gegeben. Das ist für Holsteinkühe nicht ungewöhnlich, denn diese Rasse wurde gezielt auf eine hohe Milchleistung hin gezüchtet. Wie viel Milch eine durchschnittliche Holsteinkuh gibt, ist jedoch schwierig zu sagen. «Das hängt sehr stark mit der Fütterung und der Haltung zusammen», sagt Markus Wyss. 

Teil der Familiengeschichte
Damit eine solch hohe Lebensleistung wie bei Haiti überhaupt möglich ist, sind drei Hauptfaktoren zentral, ist Besitzer Markus Wyss sicher: «Die gute Genetik als Grundlage, die Haltung und die Fütterung.» Haiti ist Teil der Geschichte des Betriebes der Familie Wyss. Sie hat daher schon viel miterlebt. So stand sie anfänglich noch im Anbindestall und die Milch wurde damals in die Käserei gegeben. Dies hatte eine ganz andere Fütterung bedingt. 2005 wurde der Laufstall fertig gebaut. «Haiti hat von den Verbesserungen im Stall und von der veränderten Fütterung viel profitiert», sagt Markus Wyss. Seine 55 bis 60 Milchkühe werden über eine Totalmischration gefüttert. Das bedeutet, dass alle für die Fütterung wichtigen Komponenten gemischt und über einen Futtermischwagen verabreicht werden. 

Das Zuchtziel heisst Langlebigkeit. «Das heisst für mich vor allem gesunde und problemlose Kühe», sagt Markus Wyss. Punkto Leistung gebe es in diesem Fall für ihn kein Limit. «Gesunde und robuste Kühe können enorm viel leisten», sagt er. Wichtiger sei, dass die Rasse zum Betrieb passe. Sein Vater hatte in den 1980er-Jahren die Simmental-Kühe mit Red Holstein eingekreuzt und er stellte dann allmählich auf Holstein um. Haiti ist ein Ergebnis dieser Entwicklung, in ihren Adern fliesst Simmental-, Red Holstein- und Holstein-Blut. Ihr Vater war der legendäre Holsteinstier Startmore Rudolph. Er ist bis heute für seine langlebigen Töchter auf der ganzen Welt bekannt und sein Blut findet man in vielen berühmten Zuchtfamilien. Haitis Mutter Hassa lebte ebenfalls auf dem Betrieb der Familie Wyss. Sie wurde stattliche 17 Jahre alt und kam auf eine Lebensleistung von über 120 000 Kilogramm Milch. 

Haiti hat drei Töchter geboren, zwei davon haben auf dem Betrieb der Familie Wyss gelebt und auch eine der Enkelinnen kommt ganz nach ihrer Grossmutter. Auch sie hat eine hohe Milchleistung und einen starken eigenen Willen. Und wie ihre Grossmutter hat auch sie weder Euter- noch Klauenprobleme. Auch sonst ist sie eine gesunde Kuh. Grossmutter Haiti war nur einmal in ihrem Leben richtig krank. Nachdem sie zehn Mal problemlos gekalbt hatte, wurde sie während der elften Trächtigkeit drei Monate vor dem Abkalbedatum krank. Sie war zwei Wochen lang im Tierspital, wo auf ihrer Gebärmutter krebsartige Geschwüre und Polypen festgestellt wurden. Infolge der Trächtigkeit war ihr gesamtes Körpersystem überlastet. «Wir beschlossen, sie nicht mehr zu besamen», sagt Wyss. 

An Sozialkompetenz mangelt es
Seither geniesst sie auf dem Hof eine Sonderbehandlung. Weil sie nicht mehr gerne mit anderen Kühen zusammen ist, hat sie bei den Pferden und Kälbern eine schöne Einzelbox bezogen. Der Vater von Markus Wyss kümmert sich dort regelmässig um sie und mistet täglich ihre Box aus. Doch eine wirklich enge Beziehung zu Haiti aufzubauen, ist schwierig. «Sie hat keine hohe Sozialkompetenz und war schon immer ziemlich egoistisch», sagt Susanne Wyss. «Aber sie hat die anderen Kühe nie gestört und war klar die Leitkuh. Wenn sie fressen wollte, gingen alle anderen eben zur Seite», sagt Markus Wyss.

Laut ihm ist Haiti eine souveräne Kuh, eine richtige Respektskuh. Sie komme von sich aus nicht näher zu einem heran und Berührungen am Kopf mochte sie noch nie. «Ausser sie ist stierig, und das wird sie noch immer regelmässig. Dann wird sie plötzlich ganz anhänglich», sagt Michelle Wyss amüsiert. Erstaunlich ist das tadellose Euter, das Haiti bis heute aufweist. Auch Becken und der allgemeine Knochenbau sind immer noch top. An Ausstellungen ist Familie Wyss mit ihr nie gegangen. 

Man darf gespannt sein, wie viele Jahre Haiti noch vergönnt sind. Anders als andere Kühe, die, sobald die Fruchtbarkeit nachlässt, geschlachtet werden, darf sie einen entspannten Lebensabend geniessen. «Dass Kühe, die nicht mehr produktiv sind, in der Regel nicht auf den Betrieben bleiben können, ist natürlich auch durch den tiefen Milchpreis und die hohen Schlachtpreise bedingt», sagt Markus Wyss. Wirtschaftlich gesehen ergebe es keinen Sinn, eine Kuh, die nicht mehr fruchtbar ist, noch länger zu behalten. Doch Haiti – mittlerweile mehr Haus- als Nutztier – hat sich diesen Status über Jahre erarbeitet. Und wer weiss, vielleicht knackt sie sogar noch die 200 000er-Marke ...