Die Grünflächen in Tänikon TG sind in Parzellen eingeteilt. Zwei Herden à zehn Kühe grasen auf zwei getrennten Weiden. Ist eine Parzelle abgefressen, geht es auf die nächste. Es ist später Nachmittag, die Tiere muhen lautstark. Ihre Weiden sind ziemlich kahl, und jenseits des Zauns wartet viel sattgrünes Gras. Doch das gibt es erst am nächsten Tag. «Sie haben Hunger», bestätigt Michael Schwarzenberger. Der Agronom leitet die Abteilung Milchproduktion am thurgauischen Bildungs- und Beratungszentrum Arenenberg, dessen Kühe in Tänikon weiden und wo auch die IG «Neue Schweizer Kuh» angesiedelt ist. Dann geht ein Gatter auf. «Die Kuh ist ein Tier des geringsten Widerstands.» Tatsächlich wissen die 20 Kühe genau, dass sie nun gemolken werden und es viel frisches Heu gibt. Denn, keine Sorge: Die Tiere bekommen genug zu futtern. Angeführt von Leitkuh Simba marschiert die Herde Braunviehkühe Richtung Stall.

Das Braunvieh ist eine urschweizerische Rasse. Seit dem späten 19. Jahrhundert importierten US-Farmer die milchbetonten Zweinutzungstiere und züchteten sie weiter mit einem einzigen Ziel: der höchstmöglichen Milchleistung. Seit den frühen 1960er-Jahren kamen solche mit viel Kraftfutter ernährten «Brown Swiss» zurück in die Schweiz, wurden in das hiesige Braunvieh eingekreuzt und siehe da: Die Nachkommen gaben sehr viel mehr Milch. Und die Leistung stieg und stieg: Von jährlich 3600 Kilogramm Milch um 1965 bis zu knapp 7200 Kilogramm im vergangenen Jahr – und dies sind Durchschnittswerte. Es gibt auch Hochleistungskühe, die über 12 000 Liter im Jahr liefern.

Mancherorts ist von einer «Amerikanisierung der Kühe» die Rede, denn die Tiere wurden nicht nur leistungsstärker, sondern auch immer grösser, im Schnitt 0,3 bis 0,4 Zentimeter pro Jahr. 1993 waren Braunviehkühe gemäss Martin Rust, Vizedirektor von Braunvieh Schweiz, beim Kreuzbein, also bei den Hinterbeinen, zirka 138 Zentimeter hoch, im 2018 lag der Wert bei 146 Zentimetern. Die Zunahme der Grösse habe sich abgeflacht: «In den letzten zehn Jahren hat das Braunvieh bei der Durchschnittsgrösse um rund zwei Zentimeter zugenommen.»

Die Kuh der Zukunft
Was für den Laien nach wenig tönt, hat aber viele Auswirkungen. Denn erstens heisst grös­ser auch länger und breiter. Viele Ställe in der Schweiz sind aber vor Jahrzehnten für kleinere Tiere gebaut worden. Zweitens heisst grösser auch schwerer. Mächtigere Kühe verursachen Landschaftsschäden, sind weniger geländegängig und haben als Zehengänger mehr Gelenk- und Klauenprobleme, zählt Schwarzenberger auf. Schliesslich müssen sie für die gleiche Menge Milch mehr fressen als leichtere Kühe. «Je grösser sie sind, je mehr Proteine und Energie und damit konzentriertes Futter brauchen sie. Dann kommt Kraftfutter ins Spiel.»

Aufwendige Stallumbauten, zertrampelte Böden, Zusatzausgaben für Kraftfutter und für Tierarztrechnungen: Immer mehr Bauern fühlten sich unwohl ob dieser Entwicklungen und gelangten an die Arenenberg-Spezialisten. Diesen Landwirten gibt die 2015 gegründete IG «Neue Schweizer Kuh» eine Stimme. «Die Schweiz ist ein erfolgreiches Zuchtland. Wir haben unsere Kühe exportiert und wieder importiert. Nun wollen wir uns neu überlegen, welcher Kuhtyp zum Grasland Schweiz mit all den kommenden Herausforderungen passt», erklärt Schwarzenberger.

Denn es geht um die Kuh der Zukunft: «Wir wollen kleinere und leichtere Herdenkühe, die fruchtbar und gesund sind, weniger Antibiotika brauchen und das hierzulande wachsende Grundfutter wie Gras, Heu und Mais sowie maximal zehn Prozent Kraftfutter so effizient wie möglich in Milch umsetzen», umreisst Schwarzenberger die Ziele der IG. Oder in Zahlen ausgedrückt: 142 bis 145 Zentimeter grosse und 500 bis 600 Kilogramm schwere Kühe, die 7000 bis 8000 Liter Milch pro Jahr geben. Damit wären die Kühe gar nicht so viel kleiner als die aktuelle Normgrösse, aber «wir müssen schauen, dass wir es erreichen», sagt Schwarzenberger. Wie also soll die Verkleinerung der neuen Schweizer Kuh gelingen? «Indem die Bauern gezielt kleine oder mittelgrosse Stiere einsetzen», sagt der Agronom. Die Stiere müssen aber nicht nur bezüglich Grösse passen: «Stimmen müssen zudem Fitnesswerte wie Fruchtbarkeit, Eutergesundheit oder Nutzungsdauer, aber auch die Leistungsbereitschaft, das hier gewachsene Futter in gesunde, wertvolle Milch umzusetzen.»

Grösse hat hohe Erblichkeit
Um all diese Eigenschaften zu vereinen, habe man mit der Landwirtschaftlichen Fachhochschule Hafl in Zollikofen BE als Selektionskriterium den «Swiss Cow Index» entwickelt. Als Hilfe für die Landwirte, die ihre Kühe kleiner züchten wollen, führt die IG eine Liste dieser Stiere, welche für alle frei einsehbar ist. Das Thema «Grösse» ist für alle Milchviehrassen relevant, weshalb es solche Listen nicht nur für Braunvieh und Original Braunvieh gibt, sondern auch für Holstein, Red Holstein, Swiss Fleckvieh und Simmental. Bei der IG machen denn mittlerweile auch Züchter aller Rassen mit.

Die allermeisten aufgeführten Stiere sind kleiner als der mit der Zahl 100 angesetzte Durchschnittswert der jeweiligen Rasse. Hat nun der Stier den Wert 85 und die Mutterkuh 120, wird das Kalb als erwachsenes Tier im Schnitt einen Wert von 102,5 erreichen. Weil die Grösse eine hohe Erblichkeit hat, ist bereits der erste Nachwuchs kleiner als die Mutter. «So können wir die Tiere von Generation zu Generation kleiner respektive zur gewünschten oder optimalen Grös­se züchten», sagt Schwarzenberger und zeigt auf die dreijährige Vida, die 142  Zentimeter gross ist. Auch wenn sie noch zwei, drei Zentimeter wächst, kommt sie dem Ideal der neuen Schweizer Kuh schon sehr nahe. Denn Vida ist kleiner und runder als die älteren Kühe der Herde. Ihr Nachwuchs braucht nicht mehr kleiner zu werden.

Landwirte müssten sich genau überlegen, welche Stiere sie brauchen, und bei Bedarf reservieren, rät Schwarzenberger. Denn so würden sie mitbestimmen, was im «Toro», dem Magazin der Firma Swissgenetics, in dem die Schweizer Zuchtstiere in Bildern und mit allen wichtigen Eckdaten aufgeführt sind, publiziert werde. «Züchten heisst vorausplanen und in Generationen denken.»

Bauern müssten aber auch wissen, was sie auf ihren Betrieben brauchen, um ökonomisch zu arbeiten und das Optimum zu erreichen. Langzeitstudien mit Holstein-Herden hätten gezeigt, dass auch kleinere Kühe gute Leistungen erbringen können. Auch wenn sie weniger Milch geben als ihre grös­seren Artgenossinnen, sind sie durchaus rentabel, da sie länger leben sowie gesünder und robuster sind und damit billiger im Unterhalt. Wie zur Bestätigung sagt Schwarzenberger, dass «Vida wirklich gut im Schuss ist».