Ahnungslos grasen die Damhirsche im Schaffhauser Munotgraben. Trotten durch den sumpfigen Rasen, der allmählich seine Farbe von grün zu braun wechselt, genau wie die Blätter, die von den angeknabberten Bäumen tröpfeln. Nicht wissend, dass sie vielleicht bald aus ihrem Zuhause vertrieben werden. Dann zumindest, wenn Alfred Tappolet sein letztes Ziel als Stadtpolitiker erreicht.

Szenenwechsel: Gennersbrunn. Ein winziger Weiler ausserhalb von Schaffhausen. Hier lebt Tappolet, SVP-Grossstadtrat und Bauer. Auf einem Hof, der seit dem tiefsten 19. Jahrhundert im Familienbesitz ist und auch für mindestens eine weitere Generation bleibt; der Sohn hat den Betrieb bereits übernommen. Hinter dem Haus weiden aber noch die Schützlinge von Tappolet senior, die vier Mufflondamen. 

Alfred Tappolet öffnet das Gatter mit der Rechten, in der Linken jongliert er eine Zuckerrübe. Er pfeift. «Chum, Muffi», ruft er und Muffi kommt. Die Chefin in der Wildschafherde. Zahm raspelt sie ein Rübenstück aus Tappolets Hand, zuckt aber zurück, als die Reporterhand sich ihrer Schnauze nähert. «Das sind halt schon noch Wildtiere», sagt der pensionierte Bauer.

Vor mehr als zehn Jahren sind die Mufflons auf den Gennersbrunner Hof gekommen. Aus dem Berner Tierpark Dählhölzli, wie Tappolet erzählt: «Dort wären sie überzählig gewesen und den Wölfen verfüttert worden.» Damals ist es ein Schaffhauser Tierfreund gewesen, der die Tiere retten wollte. Schliesslich sei der Widder das Wappentier von Stadt und Kanton (Lesen Sie hier mehr zum Schaffhauser Wappen). Das verpflichtet. Und schon damals gab es die Idee, die Mufflons im Graben der berühmten Festung weiden zu lassen. Sie wurde verworfen, die Schafe landeten bei Tappolet.

Kuriose Gegenargumente
Heute ist diese Idee aktueller und ihre Umsetzung realistischer denn je; Alfred Tappolet hat den Vorschlag per Postulat im Grossen Stadtrat präsentiert. «Wir haben in Schaffhausen ein imposantes Wappentier», unterbreitete er seinen Ratskollegen. Bern zeige sein Wappentier im Bärengraben, Graubünden mache Werbung mit zwei sprechenden Steinböcken. «Warum sollte es nicht auch unser Schaffhauser Wappentier zum Werbeträger unserer Region schaffen?» 

Das Mufflon soll im Munotgraben landen, diesmal macht Tappolet ernst. Aber seine eigenen Schafe sollen es nicht sein. «Die bleiben hier!» Da ist der Bauer resolut. Aber es fände sich bestimmt ein Tierpark irgendwo, der seine Mufflons gegen die Munot-Damhirsche eintauschen würde.

Das Postulat wurde bald zum Schaffhauser Stadtgespräch. Widerstand bildete sich von der politisch linken Seite. Verkehrte Welt: Ausgerechnet ein pensionierter SVP-Bauer will eine mehr als hundertjährige Tradition über den Haufen werfen. Und ausgerechnet von links kommt Widerstand. «Die, die sonst alle Traditionen verdammen, sind auf einmal die Gralshüter», sagt Tappolet.

Das Mufflon in der Schweiz
Das Mufflon ist das kleinste aller Wildschafe und stammt ursprünglich aus Asien. Es gelangte in den Mittelmeerraum und behauptete sich vor allem auf den Inseln Korsika, Sardinien und Zypern, wo es keine Fressfeinde hatte. Als das Mufflon in den 1960er-Jahren auf Korsika auszusterben drohte, wurden in ganz Frankreich Herden herangezüchtet, auch im Val D’Abondance nahe der Schweizer Grenze. Im Laufe der 70er-Jahre fanden die Tiere dann vereinzelt den Weg ins Wallis, wo heute ein paar Hundert Tiere leben. Im Rest der Schweiz waren die Mufflons nie heimisch.

Die Argumente der Gegner zeichnen Tappolet mehr als einmal ein Grinsen in den grauen Bart. Es sei unwürdig für die Tiere, dass wir Menschen auf sie herunterschauen, habe einer vorgebracht. Das gelte aber für die Hirsche auch. «Und dann kamen noch die Historiker», sagt er, nun etwas verärgert. «Das Mufflon sei gar nicht das Wappentier von Schaffhausen», hätten die gesagt, «das sei damals gar nicht heimisch gewesen hierzulande.» Dass sie damit vermutlich recht haben (siehe Kasten), scheint Tappolet nicht zu interessieren. Näher als ein Damhirsch käme der Mufflonwidder dem Wappentier allemal.

Der Grosse Stadtrat hat das Postulat trotz der Gegenwehr von linker Seite deutlich angenommen. Nun hat der fünfköpfige Stadtrat zwei Jahre Zeit, sich für oder gegen die Mufflons im Munotgraben zu entscheiden. «Fünfzig-Fünfzig», schätzt Tappolet die Chance nun ein. Wer ihm einen Strich durch die Rechnung machen könnte, ist einer der fünf: Schaffhausens Stadtpräsident Peter Neukomm.

Platzhirsch Peter tönt besser
Er, der «SP-Stapi», hat sich im Vorfeld mehrfach gegen Tappolets Idee geäussert. Nun, wo das Geschäft bei ihm liegt, zeigt er sich seinen Ratskollegen gegenüber kollegial: «Da das Parlament ja bekanntlich immer recht hat, werde ich mich hüten, mich als Gegner von Mufflons im Munotgraben zu outen», schreibt er mit einem Augenzwinker-Smiley per E-Mail. 

Es geht noch um eine andere Tradition im Munotgraben. Der Chef der Damhirschherde nämlich, der trägt immer auch den Vornamen des Stadtpräsidenten. Platzhirsch Peter. Klingt besser als Schafbock Peter. Und so drückt Neukomms Meinung doch deutlich durch, wenn er halbherzig abwinkt: «Dabei spielt die Befindlichkeit des Stadtpräsidenten, der es natürlich angemessener findet, wenn ein erhabener Hirsch seinen Vornamen trägt als ein blökendes Schaf, keine Rolle.»

Mufflonbauer Tappolet gibt hierzu zu bedenken: «Wenn dann mal eine Stadtpräsidentin gewählt wird, ist sie dann eine Hirschkuh? Die sagt dann Danke schön!» Wieder grinst er breit. Das Politikum um den Munotgraben ist ihm ein ernstes Anliegen, aber todernst dann auch wieder nicht. «Ich politisiere jetzt seit 30 Jahren, von dem her nehm ich das locker», sagt er, im Hinblick auf eine allfällige Niederlage. Schade fände er hingegen, wenn nun wegen ihm eine Grundsatzdiskussion losgetreten würde und am Ende gar keine Tiere mehr im Munotgraben weiden würden. 

So unrealistisch ist dieses Szenario nicht, es werden schon Stimmen in diese Richtung laut. So schreibt Stadtpräsident Neukomm unaufgefordert: «Das jährliche Feuerwerk am Munotkinderfest erweist sich für die Hirsche als Fluchttiere als eine Zumutung.» Er gehe aber davon aus, «dass das auch für Mufflons nicht anders wäre». Anstelle von Tieren, so existieren bereits Ideen, könnte künftig etwa ein Biergarten im Munotgraben stehen. Oder ein Kinderspielplatz. Bei denen wäre es also nicht unwürdig, von oben auf sie herabzuschauen.