Als sich Kursleiter Philipp Wenz mit zwanzig Leuten der Weide in Kirchlindach BE nähert, kommen die Kühe mit ihren Kälbern neugierig heran. 900 Kilo schwere Mutterkühe der Rasse Charolais, bereit ihren Nachwuchs zu beschützen, wenn sie sich bedroht fühlen. Und was macht Wenz? Er steigt genau da über den Zaun, wo die Herde steht. Das deutet nicht etwa auf Naivität hin. Wenz ist ein erfahrener Landwirt und weiss genau, was er tut, er hat sich während Jahrzehnten intensiv mit dem Verhalten von Kühen beschäftigt. In den USA ist er auf die Methode des «Low Stress Stockmanship» gestossen, auf Deutsch: «stressarmes Herdenmanagement». Ziel ist es, die Kühe machen zu lassen, was der Mensch will, ohne sie zu erschrecken, anzuschreien oder zu schlagen.

Seine Erfahrung mit dieser Methode gibt Wenz nun weiter. Hier auf der Weide will er den Teilnehmern seines Kurses demonstrieren, was er ihnen zuvor im Bildungszentrum Inforama Rütti in Zollikofen BE in der Theorie erklärt hat. «Wenn die Kuh ihre Schnauze vorstreckt, will sie riechen», sagt er in sein Mikrofon. Der Ton wird auf einen Lautsprecher übertragen, der ausserhalb des Zauns steht und von der Weide weg in Richtung der Teilnehmer gerichtet ist. Er rede für die Menschen, nicht für die Kühe, hat er dazu erklärt. Denn mit Kühen reden sei unnötig, findet er und widerspricht damit der gängigen Meinung. Sein Argument: Eine zufriedene Kuhherde ist still, nur unzufriedene Rinder sind laut. Zustimmendes Nicken der Teilnehmer.

Riechenlassen lohnt sich
Die Kuh will also nicht wissen, wie der Mensch tönt, sondern wie er riecht. Und deshalb reicht Wenz derjenigen, die auf ihn zugeht, nun den Handrücken. «Ich lasse das Tier schnuppern», erklärt er. «Danach ist das Tier bereit, zu wenden und wegzugehen.» Das Riechenlassen benötigt zwar ein wenig Zeit, doch er ist überzeugt, dass es sich lohnt, diese zu investieren. Denn wenn die Kuh Vertrauen fasse, seien künftige Arbeiten mit dem Tier weit schneller zu bewältigen, etwa eine Kuh in den Anhänger zu verladen oder sie in den Klauenpflegestand zu bringen.

Das Spektrum der Teilnehmer am Kurs in Zollikofen ist breit: Landwirte aus Milchkuh-, Mutterkuh- und Kälberaufzuchtbetrieben; Städter, die im Sommer auf Alpbetrieben arbeiten; Mitarbeiter der Beratungsstelle für Unfallverhütung in der Landwirtschaft; eine Teilnehmerin kommt gar von einem Betrieb mit Schafen. Frauen und Männer und Paare, jung bis mittelalt, viele aus dem Kanton Bern, einzelne aus der Romandie, der Zentral- und Ostschweiz.

Woher kommt aber dieses Interesse für eine neue Methode – in einem Land, dessen Bewohner über Jahrhunderte, ja Jahrtausende Erfahrung in der Viehhaltung gesammelt haben? Wenz erklärt es mit den Veränderungen in der Landwirtschaft in den letzten Jahrzehnten. «Der Kontakt zum Tier nimmt ab», konstatiert er. Mutterkuhhaltung, bei der das Vieh im Vergleich zur Milchkuhhaltung weitgehend sich selbst überlassen wird, liegt im Trend. Aber auch bei der Milchkuhhaltung werde der Abstand zwischen Mensch und dem einzelnen Tier grösser, da die Betriebe entweder mehr Tiere als früher hielten oder nur im Nebenerwerb geführt würden.

Das Arbeiten mittels «Low Stress Stockmanship» erhöhe die Arbeitssicherheit, sagt Philipp Wenz. Eine Kuh greife nur an, wenn sie Angst habe – und seine Methode verzichtet eben gerade aufs Angstmachen als Mittel zum Treiben. Seine ersten Versuche, die Tiere auf der Weide aus dem Schatten des Baumes zu treiben, ohne sie zu stressen, scheitern hingegen: Die Herde rennt offensichtlich verängstigt in die untere Ecke der Weide und wieder zurück. Und auch beim zweiten Versuch dasselbe.

Erhöhte Arbeitssicherheit
Einzelne Teilnehmer werden ungeduldig. «So lange kannst du dir aber nicht Zeit nehmen, wenn der Lastwagen wartet», sagt der eine zu seinem Kollegen, und der antwortet: «Jetzt müsste er einen Helfer oder zwei haben.» Doch die Herde beruhigt sich, und endlich klappt es, die Kühe lassen sich mit ihren Kälbern in jene Richtung treiben, die sie zuvor gemieden haben. Um sie in Bewegung zu bringen, nähert sich Wenz seitlich einer Kuh, und sobald sie zu gehen beginnt, bleibt er stehen – er nimmt den Druck weg, wie er sagt, und signalisiert damit der Kuh: Wenn du weitergehst, nerv ich dich nicht mehr.

So hält Philipp Wenz den Stress für das Tier gering. Er ist aber kein Kuhflüsterer, schon eher ein Kuhversteher. Zwar verzichtet er auf Stock, Schreie und Armfuchteln, aber er lässt die Kühe doch durch bestimmtes Auftreten wissen, was er von ihnen will. Er streichelt sie nicht, verzichtet ganz auf Berührungen. Wenn ihn eine Abschlecken will, zwickt er ihr mit den Fingern auf die Nase, damit sie den Respekt vor ihm nicht verliert. Und wenn er «Low Stress Stockmanship» anpreist, argumentiert er nicht mit dem Tierwohl, sondern sagt, dass sich schwierige Aufgaben so schneller und sicherer ausführen lassen. Zum Beispiel das Separieren eines Tiers von der Herde.

Entspannte Kühe fressen mehr
Die Schwarze, die sich bisher unauffällig verhalten habe, wolle er nun von ihrem Kalb und den anderen Tieren trennen, kündigt Wenz durchs Mikrofon an. Schräg von vorne geht er auf sie zu – nie frontal von vorne, das könnte sie als Angriff verstehen. Das Tier sucht die Nähe der Herde, will um ihn herumgehen, doch er lässt sie nicht durch. Es dauert ein paar Minuten, bis ihre Versuche, sich zu den anderen Kühen zu gesellen, abnehmen. «Jetzt hat sie verstanden, dass ihr nichts passiert, wenn sie von der Herde getrennt ist», erklärt Wenz und macht weiter. Wenige Minuten später steht die Kuh ganz alleine in einer Ecke der Weide und wirkt nun wieder entspannt.

Das Publikum ist beeindruckt. «Ich hätte gewettet, dass Sie das nicht schaffen», sagt ein Teilnehmer. Und Wenz erklärt, dass das Separieren dieser Kuh aus der Herde das nächste Mal höchstens halb so lang gehen werde. «Man kann sie wieder in dieselbe Ecke treiben. Sie weiss nun, hier hat sie Ruhe.»

Nicht zuletzt lohnt sich das Vermeiden von Stress laut Wenz auch, weil entspannte Kühe mehr fressen, die Nährstoffe besser ausnützen und weniger anfällig auf Erkrankung des Verdauungsapparates seien. Seine Methode soll sich also, auch wenn sie zu Beginn Zeit braucht, positiv auf die Wirtschaftlichkeit des Betriebs auswirken – gerade bei Mutterkühen wie den Charolais hier auf der Weide.

Im Video ist zu sehen, wie sich eine Herde wenden lässt:

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