Ein schmuddeliger Wintertag in Dachsen, ganz im Norden des Kantons Zürich, der Rheinfall ist nicht weit. Aufgeregtes Geschnatter empfängt die Besucher des Selbstpflückhofs der Familie Fürst. Das lautstarke Begrüssungskomitee der Gänse bringt auch eine Gruppe Mini-Zwergziegen auf den Plan.

Sie hören auf zu fressen und schauen neugierig herüber. Auf der anderen Seite des Kiesweges nähern sich Alpakas, zwischen ihren hohen Beinen wuseln zwei Schafe. Kaninchen und Enten ergänzen die kleine Tierschar auf dem Mühebachhof. Seit einigen Wochen aber sind Rentiere die Attraktion schlechthin. Schon fast magisch zieht es die Spaziergänger an den Wochenenden zur Weide oberhalb des Hofes, auf der die Herde lebt.

Kaum betritt Salome Fürst, die Tochter der Hofbetreiber und Besitzerin der Rentiere, den Unterstand mit einem Eimer voller Leckerli, traben die zwei Männchen und neun Weibchen daher. Sofort machen sie sich über die Maiswürfel und Äpfel her, immer wieder interessierte Blicke auf die Besucher werfend. Manche kommen dafür sehr nahe an die Menschen heran. «Sie sind neugierig und recht zahm», bestätigt Salome Fürst. Tatsächlich lassen sie sich problemlos streicheln.

Jetzt, im Winter, haben die Rentiere sich ein weiches, dickes Fell zugelegt. Jedes Tier ist individuell gezeichnet. Die einen haben ein eher graues Fell, andere ein beige-braunes. Im Winter sei das Fell als Anpassung an den Schnee richtig hell, erklärt Fürst, im Sommer könne es dagegen fast dunkelbraun sein. Für die sommerliche Wärme, die in Skandinavien durchaus auch herrscht, verlieren sie ihr Fell: «Dann haben sie einen Millimeterschnitt.» Und so sind die Hirsche aus dem hohen Norden Europas für jede Jahreszeit gerüstet.

Rentiere statt Milchkühe
«Schnee, Kälte und Nässe macht ihnen ebenso wenig aus wie Hitze», betont Fürst, «aber sie brauchen Schatten.» Den bekommen sie derzeit im Unterstand und dereinst unter Bäumen, die bald gepflanzt werden. Bis im Herbst werde auch der Auslauf um einen Hektar erweitert, sagt Fürst, das Ziel seien total drei Hektaren. Auf der aktuellen Weide von einem Hektar sind 20 Tiere erlaubt – kein Problem also, wenn die Herde grösser wird. Denn Salome Fürst geht davon aus, dass sich im Frühling Nachwuchs einstellt: «Ich habe sie zwar nicht untersuchen lassen, aber ich glaube, dass zwei oder drei Weibchen trächtig aus dem Kanton Bern bei uns angekommen sind.» 

Der Import ist nicht erlaubt, weil in Norwegen Rentiere an der «Chronic Wasting Disease», einer BSE-ähnlichen Hirnerkrankung bei Hirschen, erkrankten. Für Fürst sprechen weitere Gründe gegen einen Import: «In Skandinavien sind sie viel grössere Gehege, anderes Klima und Futter gewohnt.» Und es käme ihr nie in den Sinn, Tiere aus der Freiheit in Gehege zu verpflanzen.

So übernahm sie ihre Tiere von einem Hof im Kanton Bern. Dort kam sie auch das erste Mal in Kontakt mit den Hirschen aus dem hohen Norden. «Ich habe den Hirschhalterkurs gemacht mit dem Ziel, Rothirsche zu halten», sagt Fürst. Doch dann habe sie beim Kurs erfahren, dass Rentiere zahmer seien. Und nach dem Besuch im Bernbiet wusste sie: «Solche will ich.»

Nun ist Salome Fürst die vierte Besitzerin von Rentieren in der Schweiz. Die ausgebildete Landwirtin besucht die höhere Fachschule Strickhof, wo sie sich zur Agrotechnikerin weiterbildet. In ein bis zwei Jahren will die bald 21-Jährige den Betrieb der Eltern übernehmen. «Ich bringe mich gerne und mit vielen Ideen ein, die wir in der Familie diskutieren», sagt sie lächelnd.

Eine dieser Ideen sei gewesen, die Milchwirtschaft zu beenden. «Ich habe schon gerne Kühe, aber nicht so gerne, dass ich jeden Morgen um fünf Uhr im Stall stehen will.» Dies sei der ausschlaggebende Punkt gewesen für den Hirschhalterkurs, denn ein Betrieb ohne Nutztiere kam für Salome Fürst nicht infrage. Und so sind die Rentiere ihr erster Schritt in die Selbstständigkeit, nachdem die Milchwirtschaft vor eineinhalb Jahren aufgelöst wurde.

Patrouillengang am Fuchsbau
Mit den in der Schweiz so seltenen Hirschen hat Fürst die Weichen für die Zukunft des Mühlebachhofs gestellt. Sie bietet Tierpatenschaften und will mit den zahmsten Tieren Trekkingtouren anbieten. Doch sie will auch züchten und Ren-Fleisch auf den Markt bringen. Dafür vorgesehen sind die männlichen Tiere, die sie nicht behalten kann.

Mehrere männliche Tiere in einer Kuh-Herde gehe schon, erklärt Salome Fürst, «aber ausser einem müssen alle anderen kastriert sein». Mit der Kastration verlieren die Männchen ihren «Kampf-Instinkt», wie Fürst sagt. In ihrer Herde ist der fünfjährige Stier kastriert und dem Chef der Truppe, dem zweijährigen Temairer, eindeutig untergeordnet. Doch nachts, wenn die ein- bis zwölfjährigen Weibchen im Unterstand schlafen, patrouillieren die beiden Männchen einträchtig nebeneinander über die Weide: «Nebenan hat es einen Fuchsbau und die Füchse kommen immer wieder mal schauen.»

Mittlerweile sind die Leckerli verputzt und die Herde widmet sich dem Heu, das ihnen zur freien Verfügung steht. Zudem gibt es Kraftfutter und Flechten, die Salome Fürst beim Berner Zoo Dählhölzli bezieht. In der Wildnis scharren Rentiere ihre Leibspeise mit den scharfen Kanten ihrer Hufe aus dem Boden.

Beim Gehen erzeugen die Tiere bei jedem Schritt ein lautes Knacken. Das Geräusch entsteht durch die Bewegungen der Sehnen im Fuss. Wieso das so ist, ist nicht restlos klar. Vermutet wird, dass das Knacken der Herde hilft, in Dunkelheit und Schneegestöber beieinander zu bleiben. So heftig ist das Schmuddelwetter an diesem Tag in Dachsen nicht. Doch die Klicklaute sind gut zu hören, während Salome Fürsts Rentiere ihre Weide durchstreifen.