Zehn Monate, mindestens, fristen Kälber aus einer Mutterkuhhaltung ein glückliches Dasein. Sie dürfen bei Kuhmama trinken, werden behütet, dürfen nach Möglichkeit einen Sommer auf der Alp verbringen, zusammen mit anderen Kälbern und Kühen. Ein zwar kurzes, aber glückliches Kälberleben, wie es Label wie zum Beispiel Bio-Weide-Beef oder Naturabeef vorschreiben. 

Nach diesen zehn Monaten, und sobald die Kälber das Mindestschlachtgewicht von 300 kg erreicht haben, ist Schluss mit lustigem Rumhüpfen auf der Weide. Nun steht die letzte Reise an. Allein die Trennung von Herde und Muttertier bedeutet für die Kälber einen enormen Stress. Es folgen das Verladen auf den Viehwagen und der Transport zum Schlacht­hof. Für die Tiere ist es ein Ende mit Schrecken – und dies oft auf langen Strecken. Denn die Kälber oder Jungrinder, deren Fleisch unter dem Label Naturaplan vermarktet wird, werden allesamt ins solothurnische Oensingen zum Bell-Schlachthof gebracht, dem grössten Schlachtbetrieb der Schweiz. Angenommen, das Vieh kommt aus dem Engadin, so bedeutet das, dass die Tiere bis zu sechs, sieben Stunden im Lastwagen mit anderen verängstigten Tieren zusammengepfercht sind. 

Stresshormone im Fleisch nachweisbar
Auf den langen Transport folgt das Warten im Schlachthof. Bis zu eineinhalb Stunden bleiben die Kälber und Rinder in einer Stallbox, bevor sie einzeln zur «Betäubungsbucht» geschleust werden. Jede ungewohnte Umgebung bedeutet für Tiere Stress und Angst. Der Adrenalinspiegel steigt, mittels Pheromonen (Botenstoffe) zeigen die Tiere Gefahr an – es wäre das Signal zur Flucht, doch die ist unmöglich. Die Stress anzeigenden Botenstoffe sind im toten Tierkörper nachweisbar. 

Das Fleisch eines auf der Weide geschossenes Tieres enthält hingegen keinerlei Stresshormone, wie eine deutsche Studie belegt, und es sei somit qualitativ hochstehender, sagt Nils Müller aus Forch ZH. Er kämpfte rund drei Jahre lang für eine Bewilligung für den Weideschuss, weil er seinen Rindern nebst einem schönen, artgerechten Leben auch einen Tod ohne Angst und Stress bieten will. «Sie sollen dort sterben, wo sie zur Welt kamen», sagt er. So schliesse sich der Kreislauf.

Unterstützt wurde Müller von der Tierschutzorganisation Vier Pfoten Schweiz sowie von Eric Meili, Berater des FiBL (Forschungsinstitut für biologische Landwirtschaft). «Uns geht es in erster Linie ums Tierwohl, erst in zweiter Linie um die Fleischqualität», sagt Meili. «Wenn man die Präambel des Tierschutzgesetzes ernst nehmen würde, müssten alle die Weideschlachtung praktizieren.»

So weit ist es noch nicht, aber nach Pionier Müller wollen nun weitere zwölf Landwirte auf die stressfreie Tötungsart, den Kugelschuss auf der Weide, umsteigen. Seit Juni  dieses Jahres liegt die Bewilligung für Müllers Hof vor. Jeder Betrieb muss beim kantonalen Veterinäramt eine Bewilligung einholen – ähnlich wie bei der Baubewilligung.Die Auflagen für die Weidetötung von Rindern (siehe Kasten) sind sehr streng, zudem muss eine geeignete Anlage für die Tötung eingerichtet werden. 

Die anderen Tiere bleiben ruhig
Nils Müller und seine Frau Claudia Wanger haben auf ihrem Hof «Zur Chalte Hose» eine Koppel plus Hochsitz errichtet; gleich neben dem Unterstand der Rinder. Am Tag X lassen Müller und Wanger die «schlachtreifen» Jungrinder im Alter von 18 und 22 Monaten, bis zu 15 Tiere, in die Koppel. 

Strenge Auflagen
Das Bewilligungsverfahren für die Weideschlachtung von Rindern ist sehr streng. Unter anderen gelten folgende Auflagen:

• Jagdbewilligung muss vorhanden sein. Munition und Waffe sind ebenfalls reglementiert.
• Veterinär muss vor Ort sein, um Lebendtierschau (Kontrolle, ob Tier gesund) zu machen.
• Metzger muss auf Platz stehen. Seine Aufgabe ist das Stechen zum Ausbluten (darf Bauer nicht selbst). Notfalls, wenn das Tier nicht sauber getroffen wurde, muss er mit einem Gewehr oder Bolzenschussgerät nachschiessen.
• Zeitrahmen: Innerhalb von 90 Sekunden nach dem Betäubungsschuss muss das Tier zur Entblutung gestochen sein. Das Schlachthüsli muss innerhalb 45 Minuten erreichbar sein und das Tier ausgenommen sein.
• Spezialanhänger: Sofort anschliessend an die Entblutung muss das Tier auf einem hygienisch einwandfreien Anhänger befestigt werden.

Informationen zum Bewilligungsverfahren erteilt Eric Meili vom FiBL: eric.meili@fibl.org;

Tel. 055 243 39 39; 079 236 47 18

Die Kühe und Kälber bleiben auf der Weide oder auf dem Vorplatz. Müller weiss im Vornherein noch nicht, welches Tier er schiessen will. Er entscheidet sich spontan für dasjenige, das in einer geeigneten Position für den Schuss steht, denn dieser muss frontal in den Schädel eindringen.

Nach dem Schuss muss alles sehr schnell gehen. Während die restlichen Angusrinder zurück zum Unterstand gebracht werden, hebt Müller das Tier mit dem Frontlader am Bein hoch, damit es der Metzger zum Ausbluten stechen kann. Das tote Tier wird nun auf einen Spezialanhänger verladen, und mit diesem schnell ins nächste Schlachthüsli gefahren. Spätestens nach 45 Minuten muss der Tierkörper ausgenommen sein. «Denn wenn es den Pansen verjagt – der Magen des Tieres bläht auch nach dem Tod weiter – ist das Fleisch nicht mehr konsumierbar», erklärt Meili. 

Und wie reagieren die anderen Rinder auf die Tötung? «Sie bleiben ruhig, es entsteht keinerlei Stress», erzählt Nils Müller. Selbst der Schuss erschrecke sie nicht mehr, er habe die Tötungssituation schon oft testhalber  durchgespielt und sie somit an den Knall gewöhnt. «Die Rinder verstehen nicht, was auf der Koppel passiert», erklärt der Landwirt, «denn die Tiere haben kein Abstraktionsvermögen.» Und da die Blutspritzer, welche beim Ausbluten manchmal neben dem Kessel landen, keine stressindizierten Pheromone enthalten, riechen die Rinder keinen Stress, keine Angst – also auch keine Gefahr. 

«Die artgerechte Haltung kann mit dem Weideschuss nun konsequent zu Ende geführt werden», sagt Eric Meili. Er sieht zudem ein wirtschaftliches Potenzial, eine Marktnische für Schlachtung mit grösstmöglichem Tierwohl und Fleischqualität. «Die Weideschlachtung ist ein Teamkonzept von Bauer, Metzger und lokalem Schlachtlokal. Sie bringt Arbeit zurück aufs Land.» Und den Störmetzger zurück? «Das Töten der eigenen Tiere, die man aufgezogen und gernhat, ist nicht jedermanns Sache», sagt Nils Müller. «Früher hat das der Störmetzger erledigt. Er hat einem die Bürde abgenommen, das eigene Tier zu töten.» 

Die Kosten für die zur Weideschlachtung notwendigen Infrastruktur (Koppel, Hochsitz, Spezialanhänger, Gewehr) trägt der Bauer selbst. Rund 20 000 Franken hat Müller dafür aufgewendet. Für das qualitativ hochstehende Fleisch, das garantiert keine Stresshormone enthält, kann er auf seinem Hof einen höheren Preis als den handelsüblichen verlangen. «Gutes Fleisch muss wieder Wert bekommen», sagt er. An Kundschaft mangelt es ihm nicht. «Selbst Vegetarier kaufen bei mir wieder Fleisch. Weil sie wissen, dass die Tiere nicht nur ein schönes Leben hatten, sondern auch einen stressfreien, würdevollen Tod.»

In diesem (keine Sorge, unblutigen) Video sehen Sie, wie Nils Müller eine Weideschlachtung durchführt:

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