Barbara Kerkmeer ist Projektleiterin bei der Stiftung ProTier, die Lebenshöfe als Netzwerk-Partner finanziell und organisatorisch unterstützt. Die 60-Jährige lebt mit Pferden, Hunden und Katzen auf einem Bauernhof im Kanton Solothurn. 

Frau Kerkmeer, sind Sie manchmal etwas neidisch auf das Gut Aiderbichl?
Nein, überhaupt nicht. 

Aber es ist der bekannteste Gnadenhof im deutschen Sprachraum. Er hat Fernseh­sendungen zur Weihnachtszeit, Prominente, Publicity, viele Spenden.
Das Geld würden wir natürlich schon nehmen. Aber Gut Aiderbichl ist ein traditioneller Gnadenhof. Ein Ort, an dem Tiere, die niemand mehr wollte, aufgenommen werden und bis an ihr Lebensende bleiben können. Aber es hat nicht die Visionen, die unsere Höfe haben.

ProTier ist Netzwerk-Partner der Schweizer Gnadenhöfe. Was zeichnet diese aus?
Wir haben mit dem Projekt vor fünf Jahren angefangen – und wir haben entschieden, dass wir nicht mehr von Gnadenhöfen sprechen, sondern von Lebenshöfen. Das passt auch besser zur Entwicklung dieser Höfe.

Inwiefern?
Natürlich haben die Tiere auch hier ein Lebensrecht bis ans Lebensende. Aber die Idee geht darüber hinaus. Die Betreiber wollen aufzeigen, wie man einen Hof ebenfalls führen könnte. Sie entwickeln andere Landwirtschaftskonzepte: Die Tiernutzung, also Fleisch, Milch und Eier, fällt weg, dafür bauen sie zum Beispiel Soja oder Lupinen an.

Wie sieht der typische Schweizer Lebenshof aus?
Der Hof Narr im Kanton Zürich etwa hat neun Pferde, sechs Geissen, drei Schweine sowie Hühner, Truthähne, Hunde und Katzen. Das dürfte etwa im Schnitt liegen. Auf manchen Höfen leben auch Kühe.

Woher stammen die Tiere?
Das ist ganz verschieden. Wir haben jeden Tag Anfragen von Menschen, die ihre Ponys, Ziegen oder Katzen nicht mehr wollen. Oder die Hofbetreiber kaufen Fohlen, die zum Metzger müssten. Es gibt aber auch verrückte Geschichten.

Zum Beispiel?
Letztes Jahr sass eine Hofbetreiberin mit Freunden in der Stube, als ihr Telefon klingelte. Eine Bekannte erzählte ihr, der Bauer, bei dem sie wohne, habe Ferkel angeliefert bekommen. Drei büxten aus und fielen ins Güllenloch. Der Bauer fischte zwei heraus, eines fand er nicht.

Was tat die Frau?
Die Freunde der Lebenshofbetreiberin waren Sea Shepherds, grosse, kräftige Meeresschützer. Die sagten: let’s go! Sie fuhren mitten in der Nacht auf den Hof und stellten eine Leiter ins Güllenloch. Einer ging runter. Das Ferkel hatte sich auf einer Art Misthaufen in der Gülle verfangen und lebte. Er watete durch die Gülle, packte das Schweinchen und sie nahmen es mit auf den Lebenshof.

Den Bauern haben sie nicht gefragt?
Nein (lacht). So etwas kann man nicht mehr ausdiskutieren. Er hatte das Schweinchen ja sowieso verloren gegeben.

Menschen, die Lebenshöfe betreiben, sind kompromisslose Tierfreunde?
Sie sind mehr als das. Es sind heute oft Menschen mit Visionen, die Philosophie und Ethik studiert haben. Die sehen, dass wir unser System verändern müssen, unseren Umgang mit Tieren und der Natur.

Was haben die Leute davon?
Sie bekommen extrem viel zurück. Tiere verhalten sich auf Lebenshöfen ganz anders, als wir es von Bauernhöfen kennen. Letzten Winter war ich auf dem Hof Narr. Da waren die Schweine gerade am Rutschbahnrutschen. Sie rannten in ihrem Aussengehege den Hügel rauf, rutschten auf ihren Hintern unter Gequietsche herunter und rannten wieder rauf. Wir waren im Stall, am Schluss kamen die Schweine ganz nudelfertig zu uns, legten sich auf den Rücken und liessen sich streicheln. 

Man liest immer wieder, dass Lebenshöfe finanzielle Probleme hätten. Nehmen sie zu viele Tiere auf?
Das ist natürlich eine Gefahr. Aber die Leute, die wir kennen, haben sich eine Obergrenze gesetzt. Das ist hart. Denn Menschen, die ihre Tiere abgeben wollen, machen oft Druck. Sie sagen: Entweder ihr nehmt die Tiere, oder sie werden morgen geschlachtet.

Gibt es andere Probleme für Lebenshöfe?
Eines ist es, bei einem konventionellen Landwirt eingemietet zu sein. Wenn es zu Streit kommt, ist es ein Riesenproblem, einen neuen Platz zu finden.

Ihre Stiftung unterstützt rund 30 Lebenshöfe in der Deutschschweiz. In welcher Form?
Wir führen Lebenshof-Patenschaften, über die wir die Höfe finanziell unterstützen. Wir vergeben die Gelder projektgebunden, sodass wir immer dort helfen können, wo es gerade am nötigsten ist. Zudem stehen wir den Lebenshöfen beratend zur Seite – und wir haben dafür gesorgt, dass sie einander überhaupt kennen. Zwei Mal pro Jahr organisieren wir ein Treffen, einen Erfahrungsaustausch.

Was sind die Voraussetzungen, dass Sie mit einem Lebenshof zusammenarbeiten?
Der Kernpunkt ist die Motivation. Wenn jemand an uns gelangt, schauen wir uns Hof und Haltung an. Wenn es nicht passt, merken wir es schnell. Einmal war ich auf einem Betrieb, der zum Lebenshof werden wollte. Ich ging in den Stall, der war an sich modern, aber Anbindehaltung. Ich sagte dem Bauern, das gehe nicht, er könne seine Kühe dann nicht mehr melken und keine Kälbchen mehr produzieren. Da sagte er, was für ein Seich das sei.

Das sagen die Kritiker des Konzepts: Nutztiere seien zum Nutzen da.
Das ist so. Da prallen zwei Welten aufeinander. In der Schweiz haben wir die Tendenz, Traditionen zu verklären. Aber weltweit zeigt sich: Eines der grossen Projekte der Zukunft muss sein, dass wir Tiere weniger nutzen, missbrauchen, quälen und töten.

Aber Nutztierhaltung ist Teil der menschlichen Zivilisation. Wären unsere Vorfahren nicht sesshaft geworden, hätten sie nicht angefangen Nutztiere zu halten, säs­sen wir heute nicht hier in einem fünfstöckigen Gebäude in der Stadt Zürich.
Das stimmt. Aber es gibt neben dem Menschen keine Spezies, die ihren eigenen Lebensraum zerstört. Und ein Teil davon ist die industrielle Nutztierhaltung. Ich erinnere mich, dass es früher nur am Sonntag Fleisch gab. Das Fleisch kam vom Bauernhof, nicht aus der Fabrik. Das ist nur eine Generation her.

Tatsache ist aber, dass in der Schweiz 1,5 Millionen Rinder gehalten werden und ebenso viele Schweine. Die meisten Menschen trinken Milch und essen Fleisch. Bringen da ein paar Lebenshöfe etwas?
Wir sind überzeugt, dass sich etwas verändern muss. Und dass jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten dazu beitragen sollte. Beim einen ist es vielleicht, dass er einen Tag weniger Fleisch isst pro Woche. Oder er macht ein Weihnachtsmenü mit nur noch drei Fleischgängen statt vier. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Für mich ist einfach klar, dass Tiere Rechte haben.

Hat sich diesbezüglich die Einstellung in der Bevölkerung verändert?
Ja, enorm. Die philosophisch-ethische Diskussion um Tierrechte hat in den letzten Jahren Fahrt aufgenommen.

Schlägt sich das auch in den Spenden für Lebenshöfe nieder?
Das ist schwierig zu sagen. Der Spendenmarkt ist hart umkämpft und der Kuchen bleibt immer etwa gleich.

Also wäre eine gute Weihnachtsvermarktung nach dem Vorbild von Gut Aiderbichl nicht schlecht?
Natürlich, doch dafür braucht man gute Verkäufer. Die meisten Lebenshofbetreiber sind das nicht. Das sind bescheidene Leute.

Was wünschen Sie den Lebenshofbetreibern und ihren Tieren zu Weihnachten?
Es wäre schön, wenn wir die Lebenshöfe bekannter machen und auf ihnen Schulungsräume einrichten könnten, um Menschen einzuladen, einmal einen Tag mit den Tieren zu erleben. Und ein Traum wäre es, so viele Lebenshof-Paten zu finden, dass die Lebenshofbetreiber und ihre Tiere finanziell etwas stabiler durchkämen.

www.protier.ch