Die meisten Eltern sind immer wieder verunsichert, wenn es um die Entwicklung ihrer Sprösslinge geht. Ab wann sollten Kinder kriechen, laufen, sprechen oder zählen können? Bei Letzterem ist es besonders kompliziert, denn hier ist nicht nur der Zeitpunkt wichtig, sondern auch, in welchem Umfang gezählt werden kann. Bis 10, bis 100 oder gar bis 1000? Ganz anders beim Geflügel. Hier stellt sich nicht die Frage nach dem Wann, sondern danach, ob Küken beziehungsweise ausgewachsene Hühner überhaupt zählen können. 

Verschiedenste Untersuchungen zeigen, dass Hühner und auch andere Tierarten durchaus in der Lage sind, sich in einem kleinen Zahlenraum zurechtzufinden. Bereits 1909 versuchte Géza Révész, ein ungarisch- niederländischer Psychologe, in einer Studie zu beweisen, dass Hühner zählen können. In einer Körnerreihe sollten die Hühner jeweils nur jedes zweite Korn herauspicken. Dazu klebte er jedes zweite Korn auf dem Untergrund fest. Der Erfolg stellte sich rasch ein. Nach nur wenigen Versuchen nahmen die Hühner auch aus einer lose liegenden Körnerreihe nur jedes zweite Korn auf. Dasselbe versuchten die Forscher später auch noch mit jedem dritten und jedem vierten Korn. Beide Aufgaben meisterten die Hühner mit Bravour. 

Einige Jahre später, 1932, versuchten laut Horst Schmidt, Diplompädagoge und Dozent für Biologie und Psychologie, zwei belgische Tierpsychologen aufzuzeigen, dass sowohl Affen als auch Hühner den Zahlenraum von eins bis drei beherrschen. Dazu hielten sie den Hühnern zweimal nacheinander ein Korn hin. Beim dritten Mal streckten sie lediglich die leere Hand aus. Damit wollten die beiden Psychologen erreichen, dass die Tiere zweimal die Hand berührten, beim dritten Mal jedoch nicht mehr, da es ja nichts zu holen gab. 

Erinnern ist nicht gleich zählen
Hatten die Hühner diese Aufgabe im Griff, wurden ihnen beim ersten Mal bereits zwei Körner angeboten. Ziel dieses Versuches war es herauszufinden, ob die Hühner nochmals die Hand berührten, um sich ein Korn zu schnappen, oder ob sie es sein liessen, da sie ja bereits zwei Körner wie beim vorherigen Versuch erhalten hatten. Und tatsächlich, die Hühner pickten kein weiteres Mal nach der Hand. 

Die beiden Tierpsychologen fühlten sich in ihrer Annahme bestätigt, dass Hühner rechnen können, wenn auch nur eins und eins zusammenzählen. Dieser Versuch löste allerdings Kontroversen in der Tierverhaltensforschung aus. Nicht alle Wissenschaftler teilten die Ansicht der beiden Belgier. Der renommierte niederländische Biologe und Ethologe Johan Abraham Bierens de Haan relativierte drei Jahre später denn auch das Ergebnis. Während seinen Forschungen über das Zusammenspiel von angeborenem und erlerntem Verhalten kam er zu dem Schluss, dass das Erinnern der Hühner an Handlungsrhythmen nichts mit dem wirklichen Zählen zu tun hatte. 

Dabei blieb es denn auch lange Zeit. Doch nun ist es italienischen Forschern gelungen, aufzuzeigen, dass Hühner doch zählen, ja sogar rechnen können. Bereits wenige Tage alte Küken verblüfften die Forscher mit ihren Zahlenkünsten. An der Universität in Trient, der Hauptstadt des Trentino und der autonomen Region Trentino-Südtirol, unternahmen Wissenschaftler unter der Leitung von Rosa Rugani Zählversuche mit nur wenigen Tage alten Küken. Bei den Küken handelte es sich um weisse Leghorns, die bereits wenige Stunden nach ihrem Schlupf einzeln in die Käfige an der Universität einzogen. 

Den Küken wurden jeweils fünf kleine gelbe Kapseln aus den bekannten Überraschungseiern in die Käfige gehängt. Jede Kapsel hing etwa vier Zentimeter über dem Boden, damit sie die Augenhöhe der Küken erreichte. Nach einigen Stunden Angewöhnungszeit entfernten die Forscher die Kapseln aus dem Käfig unter den aufmerksamen Augen der Küken. Dabei kamen drei auf die rechte Seite hinter eine Abschrankung und zwei nach links. Dann wurden die Küken freigelassen. Sofort liefen sie zur rechten Abschrankung, dahin, wo sich der grössere Anreiz, also mehr Kapseln befanden. Nachdem alle Küken diese Aufgabe in verschiedenen Variationen erfolgreich gemeistert hatten, ging es ans Rechnen. 

Die Kapseln wurden nun jeweils von links nach rechts und von rechts nach links verschoben, immer unter den wachsamen Augen der Küken. Diese bewegten sich nach jeder Verlagerung der Kapseln auf die Seite, auf der sich die grössere Anzahl Kapseln befand. Das Ergebnis war erstaunlich: Es schien, als hätten sie immer mitgezählt. 

Es kommt nicht auf die Grösse an
Nun stellte sich noch die Frage, ob bei den Küken der Anreiz der Grösse oder der Menge bedeutender ist. Dazu nahmen die Forscher Würfel in zwei unterschiedlichen Grös­sen. Waren zwei grosse Würfel rechts und drei kleine Links, entschieden sich die Hühner für die linke Seite. Die Anzahl scheint also mehr Einfluss auf die Küken zu haben, als die Grösse. Doch weshalb ist das so? Und warum ist es für Hühner überhaupt wichtig, zählen zu können? 

Rosa Rugani liefert in ihrer Veröffentlichung der Forschungsergebnisse im Fachjournal «Proceedings of the Royal Society of London» eine mögliche Erklärung zu den fabelhaften Zählergebnissen der Küken und ihrem Nutzen. Da das Huhn ein Herdentier ist und in der Gruppe weitaus mehr Überlebenschancen hat als alleine, muss es immer in der Nähe seiner Artgenossen bleiben. Während der Futtersuche, beim Sandbad oder dem Eierlegen muss es also ein Auge darauf haben, wo sich der grösste Teil der Herde befindet. 

Dies war besonders im Ursprungsland der Hühner, im tropischen und subtropischen Urwald Südostasiens, nicht immer ganz einfach. Denn dort lebten die Hühner im dichten Unterholz, schnell waren sie also hinter einem Baum oder Busch verschwunden und somit aus dem Blickfeld. Da war es für jedes einzelne Tier wichtig, genau zu wissen, wo sich der grösste Teil seiner Gruppe befindet, um bei Gefahr dort hinzulaufen. Ebenso ist es effizienter, kleinere Nahrungsmengen zu ignorieren und nach grösseren zu suchen.

Man darf gespannt sein, was die Wissenschaft über die kognitiven Fähigkeiten von Hühnern in Zukunft noch herausfinden wird. Denn je mehr man über die Intelligenz der gefiederten Tiere weiss, desto einfacher ist es, ihr Verhalten zu verstehen und ihren Bedürfnissen gerecht zu werden.

Bittet man Menschen, sich im Geiste die Zahlen 1 bis 10 vorzustellen, dann ordnen sie diese meist in einer Zahlenreihe von links nach rechts, beginnend mit 1 und endend mit 10. Die im Artikel erwähnte italienische Forscherin Rosa Rugani hat in einem weiteren Experiment herausgefunden, dass Küken höchstwahrscheinlich über dieselbe «geistige Zahlenreihe» verfügen, also kleinere Zahlen mit links und grössere mit rechts assoziieren. Dazu hat Rugani unter anderem Küken mehrfach vor zwei Schildchen gestellt, die jeweils gleich viele Punkte aufwiesen. War nun die Anzahl Punkte klein, liefen die Küken in 70 Prozent der Fälle nach links. War die Anzahl Punkte hingegen gross, liefen sie in 70 Prozent der Fälle nach rechts. Die Studie wurde im Januar 2015 im Fachmagazin «Science» veröffentlicht. Das Video dazu sehen Sie hier:

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