Die Schweiz war lange ein klassisches Freilandhaltungsland. Noch in den 1920er- und 30er-Jahren betonte der damalige Direktor des Bauernverbandes, Ernst Laur, wie wichtig frische Luft und Bewegung im Freien für Kühe, Schweine und Hühner seien. Die Wende kam in den 1950er-Jahren, wie der langjährige Direktor des Schweizer Tierschutzes (STS), Hansuli Huber, erklärt: Damals verbreiteten sich Käfigbatterien von den USA und von Grossbritannien aus auch in der Schweiz, weil man glaubte, dies sei eine hygienische Produktion. 

«Agronomen und Tierärzte haben das Tier darüber völlig aus den Augen verloren.» Tierärzte predigten mehr Hygiene und behandelten Krankheiten mit Antibiotika, statt die Tiere an die frische Luft zu lassen. Und die Agronomen betrachteten Nutztiere nur noch im betriebswirtschaftlichen Sinn. Kühe, Schweine und Hühner wurden in ihren Lebensräumen immer mehr eingeengt – ohne Leistungseinbussen: «Die Hühner in Käfigbatterien legten trotzdem Eier und angebundene Kühe gaben dennoch Milch.» Man habe sich eingebildet, den Tieren müsse es ja wohl sein, wenn sie etwas lieferten.

Unbehagen über Massentierhaltung
Also weideten viele Höfe – vor allem im Mittelland, weniger in den Alpen – ihre Kühe nicht mehr. Mastrinder lebten in 2,5 Quadratmeter grossen Buchten mit Vollspaltenboden und konnten sich weder vor- noch seitwärts bewegen. Die Schweine sperrte man ein, am schlimmsten erging es den Mutterschweinen, die man in Kastenständen hielt: Ein 90 Zentimeter breites und 180 Zentimeter langes Eisengestänge, in dem eine 200-Kilogramm-Muttersau – über ihren eigenen Exkrementen – ihr ganzes Leben verbrachte und darin einzig aufstehen, liegen und fressen konnte. Umdrehen unmöglich. «Die Situation für die Nutztiere war wirklich katastrophal», erinnert sich Huber.

Gleichzeitig veränderte sich die Schweizer Landwirtschaft seit den 1960er-Jahren immer schneller und sichtbarer: Mehr und mehr kleine Bauernhöfe mit wenig Vieh wichen grossen industriellen Tierhaltungsbetrieben. Das steigende Unbehagen bei den Menschen und die wachsende Kritik an der Massentierhaltung führte 1981 schliesslich zum ersten Tierschutzgesetz der Schweiz, das die extremsten Auswüchse der Nutztierhaltung unterband: die dauernde Dunkelhaltung, die strohlose und dauernde Anbindehaltung von Kühen und Rindern, die Maulkörbe für Kälber und die Ferkelkäfige. International für Aufsehen sorgte das Gesetz mit seinem Verbot der Käfighaltung von Legehennen.

Dieses erste Tierschutzgesetz war bereits insofern umfassend, als es alle Nutzungen der Tiere, ob Heim-, Versuchs-, Wild-, Zoo-, Zirkus- oder Nutztiere, beinhaltete. «Mit Ausnahme von Österreich, das etwas Vergleichbares hat, ist das Gesetz weltweit einzigartig», betont Huber. Aber damals habe man noch nicht alle Tierarten geregelt: Schafe, Ziegen, Spezialgeflügel wie Truten, Kaninchen oder Pferde fehlten.

Detailliertes und strenges Gesetz
Zwischen 1991 und 2005 kam es vorerst zu weiteren Verboten wie der Anbindehaltung von Kälbern, der Anbinde- und Kastenstandhaltung von Schweinen oder der harten Vollspaltenböden für neu gebaute Rindermastställe, ehe die Eidgenössischen Räte eine Totalrevision des Tierschutzgesetzes beschlossen. Das neue und bis heute aktuelle Gesetz trat 2008 in Kraft.

Mit ihm kamen neu verbindliche Vorschriften für die Schaf-, Ziegen- und Pferdehaltung sowie die Beschränkung der Tiertransportzeit auf sechs Stunden. Ausserdem durften nun auch Ferkel nur mit Schmerzausschaltung kastriert werden; für andere Nutztiere hatte dies vorher schon gegolten. Und wer einen neuen Schweinemaststall baute, durfte keine Vollspaltenböden anbringen, dies allerdings mit einer zehnjährigen Übergangszeit, sodass das Verbot erst im vergangenen Jahr richtig griff. Weiterhin zulässig sind beengte Buchten ohne Einstreu und ohne Auslauf ins Freie aber für Mastschweine und -rinder.

«Die Schweiz hat ein sehr detailliertes und strenges Tierschutzgesetz», sagt Agronom Marc Boessinger, der die Gruppe Tierhaltung bei Agridea leitet, ETH-Dozent für Tierernährung ist und kürzlich Tierschutz und Tierwohl in der Fleischproduktion der Schweiz mit den wichtigsten Importländern verglich (siehe Text Seite 14). Hinzu kämen ein ausgeprägter Vollzug mit über 12 000 Kontrollen im vergangenen Jahr, Verbindlichkeiten wie maximal erlaubte Tierbestandsgrössen sowie die Ausbildungspflicht für Tierhalter (ab zehn Tieren) und alle Personen, die Tiere transportieren oder in Schlachthöfen arbeiten. Wichtig sei zudem, dass die Schweiz keine gentechnisch veränderten Futtermittel erlaubt und dass Soja aus zertifiziertem verantwortungsvollen Anbau stammen muss.

«Punkto Tierschutz und Tierwohl stehen wir in der Schweiz sehr gut da», fasst Boessinger zusammen, «doch punkto Tierwohl kann man nie genug gut dastehen.» Auch ein strenges Tierschutzgesetz gebe nur Mindestanforderungen vor, setze aber nicht in allen Belangen ein höheres Wohlbefinden der betroffenen Tiere voraus. «Ein Tierschutzgesetz schliesst das ganz Unappetitliche aus», schränkt auch Hans­uli Huber ein. Wer die Vorschriften einhalte und einfach das Minimum mache, halte die Tiere deshalb noch lange nicht tierfreundlich.

Weniger «Zentimeter-Tierschutz»
Dass die Schweiz heute mehr Tierwohl kennt als früher, liegt weniger am Gesetz, als vielmehr an den staatlichen Förderprogrammen BTS (Besonders tierfreundliche Stallhaltung) und Raus (Regelmässiger Auslauf ins Freie), wie Huber und Boessinger übereinstimmend sagen. Wichtig seien auch die Label-Programme wie Bio und IP gewesen. Was als Nischenprodukte begann, ist bei den grossen Detailhändlern teilweise Standard geworden: Boden- und Freilandeier sowie Labelfleisch. «Markt und Politik haben sich hier gut ergänzt», sagt Huber. Bauern bekommen Bundesbeiträge, wenn sie ihre Tiere besser halten als das Gesetzesminimum vorschreibt, und generieren höhere Preise, wenn das Fleisch, die Milch oder die Eier ihrer Tiere über ein Label-Programm verkauft werden.

Die beiden Schienen von BTS / Raus auf der einen und Label-Programmen auf der anderen Seite führten zu beachtlichen Erfolgen: Vier von fünf Kühen, Schafen, Ziegen und Legehennen haben regelmässig Auslauf. «Das ist weltmeisterlich», sagt Huber. Dagegen hat nur jedes zweite Mastrind und Mastschwein Auslauf ins Freie. Die konventionelle Rinder- oder Schweinemast ist laut Huber klassischer «Zentimeter-Tierschutz»: Die Tiere bekämen mal da, mal dort mehr Platz. Der Bauer habe Umbauten mit Kosten zu bewältigen. Für seine Tiere sei aber gar nichts gewonnen, da sie weder Einstreu noch Auslauf hätten.

Die Gesetzesrevision 2008, schreibt Boessinger in seiner Studie, hatte zum Ziel, weniger «Zentimeter-Tierschutz» nachzuleben, als vielmehr den qualitativen Tierschutz mit «gesundem Augenmass» in den Vordergrund zu stellen. Auch Huber würde im Nachhinein weniger auf «einige Zentimeter mehr pro Tier» setzen als auf qualitative Massnahmen wie mehr Bewegung, Auslauf oder Strukturen, in denen die Tiere ihr natürliches Verhalten ausleben können (siehe Text Seite 16). Bei vielen Nutztieren habe man schon viel erreicht, Handlungsbedarf sieht Huber bei den Mastrindern und -schweinen. Damit die Schweiz wieder zu einem klassischen Freilandhaltungsland wird.