Wenn es frühmorgens an der Wohnungstüre klingelt, ist Esther Kern sofort hellwach. Dann kann sie es kaum erwarten, die Pakete auszupacken, die ihr der Pöstler in die Hand drückt. Sie stammen von einem der Schweizer Landwirte, bei denen sie regelmässig Gemüse bestellt, etwa von Biobauer Stefan Brunner aus Spins im Kanton Bern. «Er schickt mir Sorten, die ich auf den Wochenmärkten in der Umgebung nicht erhalte. Kraut, Stiel und Wurzeln, alles ist noch dran», sagt die 49-Jährige. 

Noch lieber indes besucht Kern die Landwirte ihres Vertrauens gleich selber, um vom Feld Gemüse für ihre Rezepte und Food-Beiträge zu holen. Für Rhabarberblüten, Federkohlstiele oder Haferwurzel-Blüten nimmt sie mitunter lange Wege auf sich. Wenn dann am Abend ihre Schuhe schmutzig sind, ist sie zufrieden. Seit ihrer Kindheit habe sie einen engen Bezug zur Erde und zur Herstellung von Lebensmitteln. «Ich bin auf einem Bauernhof in Bülach aufgewachsen, wir hielten Tiere und betrieben Ackerbau», erzählt sie.

Kochen ist eine Philosophie
Kern lässt ihren Blick zum Bund Rüebli schweifen, der neben dem Herd in ihrer aufgeräumten, modernen Küche liegt. Er ist das Überbleibsel eines Workshops vom Vortag. Wie so oft hat sie dort erstaunten Teilnehmern gezeigt, dass sich bei vielen Gemüsen alles verwerten und essen lässt, vom Blatt bis zur Wurzel. «Leaf to Root» nennt sie diese Philosophie, über die sie im gleichnamigen Blog schreibt. Dazu hat sie zudem 2016 mit dem renommierten Foodfotografen Sylvan Müller und Spitzenkoch Pascal Haag, dem ehemaligen Rezeptentwickler im Hiltl, ein Buch verfasst. An der Hamburger Buchmessse wurde «Leaf to Root» 2017 mit der Goldmedaille der Gastronomischen Akademie Deutschlands ausgezeichnet.

Kerns Beiträgen liegt die Überzeugung zugrunde, dass Kochen eine Philosophie ist. Eine eigene Welt, mit einer gesellschaftlichen und politischen Komponente. «Das wurde mir bewusst, als ich mich fragte, warum wir vom Gemüse nur die Filetstücke essen und den Rest wegwerfen – wie beim Fleisch», erinnert sie sich. Lange konnte ihr niemand sagen, was sie mit dem Rest der Pflanzen anfangen solle.

Kern begann zu forschen, um etwas gegen diese Art von Foodwaste zu unternehmen. Sie fragte bei Landwirten nach, stöberte in jenen alten Rezeptbüchern, die nun ihr Bücherregal im Wohnzimmer füllen. Und sie nahm Kontakt mit Spitzenköchen in der ganzen Welt auf, die eine experimentelle Gemüseküche pflegen. Viele von ihnen gehören mittlerweile zu ihrem Bekannten- und Freundeskreis, darunter der Luzerner Stefan Wiesner. «Ein Visionär, der mit Heu, Nussbaumblättern und sogar mit Steinen kocht», schwärmt sie. Küchenkünstler wie er würden wichtige Impulse für eine zukünftige Ernährung geben.

Den Respekt hat sich Kern hart erarbeitet. Weil keine Theorie der Welt ein reales Geschmackserlebnis zu ersetzen vermag, begann sie in der Küche mit verschiedenen Gemüsesorten und deren Bestandteilen zu experimentieren und ihre Erfahrungen als Food-Bloggerin mit der Welt zu teilen. «Ich probiere alles», sagt sie und präzisiert: «Aber erst, nachdem ich mich informiert habe, zum Beispiel über Nachtschattengewächse.» Teile von ihnen gelten gemeinhin als giftig. «Nach meinen Recherchen wusste ich allerdings, dass es nicht tödlich ist, wenn ich da hineinbeisse.» Vergiftet habe sie sich und ihren Mann, der bei neuen Gerichten als Versuchskaninchen herhält, noch nie.

Bereicherung für die Geschmackssinne
Trotz vieler Auszeichnungen und lobender Erwähnungen aus der Gastroszene: Wenn es um ihren Einfluss geht, gibt sich Kern bescheiden. Nie würde sie sich bei einem befreundeten Gastwirt an den Tisch setzen und danach schreiben, sie probiere jetzt «ihr» Gericht. Sie vermittle einfach Anregungen. Etwa, dass geschlossene Rhabarberblüten gut schmecken, wenn man sie überbackt. Kern geht es um den Ideenaustausch, mit dem Ziel, dass Gemüsesorten neu entdeckt werden.

Die Landwirtschaft als Ganzes und faire Preise für Landwirte sind ihr ein wichtiges Anliegen. Ins Schwärmen gerät sie bei einem Bauern im Albulatal, der 40 verschiedene Bio-Kartoffelsorten züchtet. Zwar sind sie im Direktverkauf teurer als herkömmliche. Doch die Nachfrage ist vorhanden, was dem Landwirt das Überleben sichert.

«Eine solche Vielfalt ist nicht nur eine Bereicherung für die Geschmackssinne, sondern auch für die Biodiversität», sagt Kern. «Der Anbau verschiedener Sorten zieht einen Reichtum an Mikroorganismen im Boden an.» Konsumenten und Politik müssten diese Art der Landwirtschaft zukünftig stärker unterstützen. Solch visionäre Ideen lässt sie in ihren Blog einfliessen, mit ein Grund dafür, dass er letztes Jahr an den World Gourmand Awards 2018 in China ausgezeichnet wurde.

Auch ein Big Mac darf mal sein
Grosser Beachtung erfreut sich auch Kerns Rezeptseite «waskochen.ch». Kern erinnert sich: «Mit dieser Website hat bei mir 2002 alles angefangen.» Dort gibt sie Tipps, wie man zeitsparend Gerichte kreieren kann. Eine schmackhafte Pizza etwa oder eine «coole Pasta», wie sie sagt, für die gerade einmal fünf Zutaten reichen. Damit will sie Alternativen zum Fertigfood aufzeigen, auch wenn sie Verständnis für diese Art der Ernährung hat. Viele Menschen hätten eben keine Zeit zum Kochen. Und dann ist da ja noch ihr achtjähriger Sohn, der auch einmal einen Big Mac essen darf, wenn er Lust hat. «Er soll das ja auch kennen.» Sie selber nasche dann auch schon einmal mit.

Lieber allerdings befasst sich Kern mit ausgefeilten Geschmäckern und gesunden Nahrungsmitteln, über die sie neben ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit als Food-Bloggerin schon beim «Tages Anzeiger» oder beim «Züritipp» als Gastrokritikerin geschrieben hat. Seit fünf Jahren ist sie als freischaffende Journalistin tätig, um ihre Leidenschaft zu finanzieren, unter anderem für den «Beobachter» und die Coop-Zeitschrift «Fooby». Neben Workshops und Referaten über die Verwertung von Gemüse hat sie ein neues Buch geplant, über das sie aber noch nichts verraten will.

Die eigene Entschleunigung bleibt auf der Strecke
«Eigentlich ist es wunderbar», sagt sie. «Ich habe viele Freiheiten, indem ich die Leute interviewe und über die Themen schreibe, die mich interessieren.» Und doch, etwas mag in ihrem Leben nicht so recht aufgehen: Während sie ihren Lesern Tipps für ein entschleunigtes Leben und nachhaltiges Essen gibt, hastet sie von einem Termin zum nächsten. Das will sie ändern, irgendwann. Vorerst allerdings warten weitere Gemüsesorten darauf, von ihr in der Küche auf Kraut und Stiel getestet zu werden.

www.leaf-to-root.com,
www.waskochen.ch
Literaturtipp Esther Kern, Pascal Haag, Sylvan Müller: «Leaf to Root», AT Verlag, ISBN: 978-3-03800-904-7,
ca. Fr. 60.– 

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Rezepttipps von Esther Kern:
Radieschenblatt-Frischkäse-Crème
Kohlrabiblatt-Chips – besser als die Knolle
Rhabarberblüte, ausgebacken und süss-sauer
Radieschenblattsalat mit Kürbiskernen
Salat aus Wassermelonenschalen – von Xu Long, China