Diese Begegnung hatte ein Nachspiel: Vor ein paar Jahren, gegen Ende November, stand eine Dame vor der Haustüre der deutschen Diplom-Forstingenieurin und Autorin Martina Gehret. In der Hand hielt sie eine Kartonschachtel, in der es raschelte. Im Inneren befand sich ein Igel, den die Unbekannte am Rande einer stark befahrenen Dorfstrasse gefunden hatte. Ob er nicht schon längst im Winterschlaf sein müsste, wollte die Dame wissen. Nein, das sei ein weit verbreiteter Irrglaube, entgegnete Gehret. Viele spät geborene Igel würden sogar bis weit in den Dezember hinein umherirren, stets auf der Suche nach Futter und nach einer Unterkunft.

Im Moment, als sie die Kartonschachtel entgegen nahm, scheint der Diplom-Forstingenieurin den Entschluss gefasst zu haben, ein Buch über Igel zu schreiben. Eines, in dem mit falschen Vorstellungen aufgeräumt wird. Und eines, das Anleitungen zum – richtigen – Schutz der Tiere gibt.

Erneute Auflage
Das Werk ist mittlerweile erschienen. Es ist bereits drei Jahre alt, wurde aber erneut ins Sortiment des Buchhandels aufgenommen, wohl aus aktuellem Grund: Während des Lockdowns haben viele Menschen das Gärtnern entdeckt, und damit die Tatsache, dass sich Schnecken gerne an den Setzlingen gütlich tun.

Ein Igel könnte dem Problem Abhilfe schaffen, ist oft der erste Gedanke. Dabei gehören Schnecken nicht zur Leibspeise der Stachelträger, wie Gehret in ihrem Nachschlagewerk «Igel ganz nah» festhält. Am liebsten ernähren sich die Tiere hingegen von Käfern, Raupen, Tausendfüsslern, Ohrwürmern, Schmetterlingen und anderen Insekten sowie von deren Larven.

Der Igel zählt nicht wirklich zum Hauptfeind grosser Nacktschneckenarten.

Martina Gehret in «Igel ganz nah»

Der Allesfresser
Bei Nahrungsmangel bleibe dem Allesfresser allerdings oft nichts anderes übrig, als auf Schnecken auszuweichen. Allerdings, wenn schon, dann am liebsten das Gelege der Nacktschnecken, also die Schneckeneier, sowie kleinere Schneckenarten. Die Autorin folgert: «Somit reduziert der Igel die ungeliebten Weichtiere im Garten, zählt aber nicht wirklich zum Hauptfeind grosser Nacktschneckenarten».  

Sobald dieses Vorurteil geklärt ist, bleibt man beim Blättern im gut 100-seitigen Nachschlagewerk schnell einmal hängen. Das liegt einerseits an den vielen grossen Bildern, denen ein «Jöö-Effekt» nicht abzusprechen ist. Andererseits ist das Buch in übersichtliche Kapitel unterteilt, die Antworten auf weitere brennende Fragen geben.

Etwa darauf, wie man bei einem ersten Check-Up erkennt, ob ein Igel überhaupt Unterstützung braucht. Tagaktives Verhalten etwa, oder eine «Hungerfalte» hinter dem Kopf weisen auf Unterernährung hin, weiss die Autorin. Igel, die sich bei der Begegnung mit einem Menschen erst gar nicht einrollen, könnten ebenfalls krank sein.

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Auch wer noch keine Begegnung mit einem Igel hatte, wird von den Beiträgen der Autorin schnell in den Bann gezogen. Das liegt daran, dass sie die Erfahrungsberichte in der Ich-Form abgefasst hat, was die Texte besonders lebendig macht. Unvergessen sind in diesem Zusammenhang die Passagen, in denen sie erzählt, wie sie den Bauch des unterkühlten Igelmädchens mit der Igel-Notwärmflasche aufwärmte und wie sie am Abend früher nach Hause fuhr, um die vielen Zecken im Stachelkleid zu beseitigen.

Zuerst eine Bio-Lektion
Gleichzeitig warnt die Autorin aber davor, Findeltiere voreilig zu behandeln. Wer nicht sicher sei, ob ein Igel Hilfe brauche, müsse sich zuerst mit der «kleinen Igelbiologie» auseinander setzen. In diesem ausführlichen Kapitel des vorliegenden Buches erfährt man vieles – von der Verbreitung, dem Lebensraum bis hin zur Physiologie der Tiere. Aber auch Antworten über die Reviergrösse und die Fortpflanzung liefert die Autorin.

Besondere Aufmerksamkeit verdient das Kapitel «Mit allen Sinnen die Welt erkunden»: Hier erklärt sie, mit welchen Sinnen der Igel seine Umgebung wahrnimmt und wie er sich in ihr zurechtfindet. Dabei darf eine Erläuterung des Jacobsoschen Organs nicht fehlen. Dieses zusätzliche Geschmacksorgan sitzt am Gaumen und ist mit unzähligen Sinneszellen ausgestattet. Es hilft dem Igel, ihm unbekannte potenzielle Nahrung auf ihre Verzehrbarkeit zu testen.

Nach dem Exkurs in die Biologie geht es zurück zu Wilma – auf diesen Namen hatte ein Bürokollege der Autorin die Findlings-Igeldame inzwischen getauft. Nach einem Besuch beim Tierarzt zeigt Gehret, wie sie das Tierchen aufpäppelte. Dazu hat sie die Teller mit den vier Menüs gleich abgebildet, neben der Auflistung vieler hilfreicher Tipps. Des weiteren erfährt der Tierfreund, wie er seinem stacheligen Gast einen Igel-konformen Schlafplatz einrichtet.    

Sobald das Buch gelesen und die Informationen verinnerlicht sind, kann der Igel im Garten einziehen. Befolgt man die Tipps des Kompendiums, stehen die Chancen gut, dass er sich hier auch wohl fühlt.

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Martina Gehret – Igel ganz nah
Wie er lebt & wie man ihn schützen kann

1. Auflage 2017
Gebunden, 96 Seiten 
Verlag: BLV Buchverlag GmbH & Co. KG, ca. 26 Franken 
ISBN: 978-3-8354-1736-6