«Wenn der moderne Mensch die Tiere, deren er sich als Nahrung bedient, selbst töten müsste, würde die Anzahl der Pflanzenesser ins Ungemessene steigen.»

Als Christian Morgenstern diesen Satz schrieb, war er seiner Zeit weit voraus. Es dauerte über hundert Jahre, bis der Vegetarismus zu einem weltweiten Trend wurde. Vermutlich wäre Morgenstern allerdings dem aktuellen Modetrend kritisch gegenübergestanden – der scharfsinnige Denker bewies in einem kurzen Gedicht eine differenzierte Sichtweise auf den Vegetarismus, doch dazu später.  

Morgenstern hatte die Fähigkeit, unglaublich kurz und prägnant Gedanken auszudrücken, die in anderen Köpfen nur vage herumschwirren:  

«Ich habe heute ein paar Blumen nicht gepflückt, um dir ihr Leben zu schenken.»  

Den Menschen hielt er den Spiegel vor, indem er ihren Umgang mit der Natur beschrieb. Die Beobachtung von Tieren dagegen schien dem rastlosen Sprössling einer Malerfamilie grosse Genugtuung zu verschaffen:

«Bemerke, wie die Tiere das Gras abrupfen. So groß ihre Mäuler auch sein mögen, sie tun der Pflanze selbst nie etwas zuleide, entwurzeln sie niemals. So handle auch der starke Mensch gegen alles, was Natur heißt, sein eigenes Geschlecht voran. Er verstehe die Kunst: vom Leben zu nehmen, ohne ihm zu schaden.»

Am bekanntesten sind Morgensterns Gedichte. Auf den ersten Blick sind sie schlicht lustig, doch hinter dem Humor und dem Wortwitz stecken tiefgründige Fragen. So griff er auch mit seinen Reimen über den Lachs einer Debatte vor, über die wir im vergangenen Jahr in «Tierwelt online» berichtet  haben:

Der Salm

Ein Rheinsalm schwamm den Rhein
is in die Schweiz hinein.
Und sprang den Oberlauf
von Fall zu Fall hinauf.
Er war schon weissgottwo,
doch eines Tages – oh!
da kam er an ein Wehr:
das mass zwölf Fuss und mehr!
Zehn Fuss – die sprang er gut!
Doch hier zerbrach sein Mut.
Drei Wochen stand der Salm
am Fuss der Wasser-Alm.
Und kehrte schliesslich stumm
nach Deutsch- und Holland um.

Morgenstern war am 6. Mai 1871 in München geboren. Die Schweiz, die er in obigem Gedicht erwähnte, lernte er kennen, als er sich, noch keine dreissig Jahre alt, in Davos und später in Arosa von der Tuberkulose zu erholen versuchte. Die Krankheit bremste weder seine Reiselust noch seinen Humor. Sogar sein untypisch trauriges Gedicht über einen Zoobesuch endet mit einem positiven Gedanken:

Mensch und Tier  

Ich war im Garten, wo sie all die Tiere
gefangen halten; glücklich schienen viele,
in heitern Zwingern treibend muntre Spiele,
doch andre hatten Augen, tote, stiere.
Ein Silberfuchs, ein wunderzierlich Wesen,
besah mich unbewegt mit stillen Blicken.
Er schien so klug sich in sein Los zu schicken,
doch konnte ich in seinem Innern lesen.
Und andre sah ich mit verwandten Mienen
und andre rastlos hinter starren Gittern –
und wunder Liebe fühlt ich mich erzittern,
und meine Seele wurde eins mit ihnen.    

Auch wenn die Haltung von Tieren in Zoos und Tierparks sich seit Morgensterns Zeiten massiv gebessert hat, kennen wir bis heute das beschriebene ungute Gefühl beim Anblick gefangener Tiere. Viele werden dem Dichter zustimmen, wenn er schreibt:

«Ganze Weltalter voll Liebe werden notwendig sein, um den Tieren ihre Dienste und Verdienste an uns zu vergelten.»

In den letzten Jahren seines Lebens hat sich Morgenstern mit Rudolf Steiner, dem Begründer der Anthroposophie, angefreundet und sich intensiv mit diesem Gedankengut auseinandergesetzt. Am 31. März 2014 starb Morgenstern in Meran im Südtirol an den Folgen der Tuberkulose. Die Urne ist auf dem Gelände des Goetheanums in Dornach beigesetzt.  

Es ist uns nicht bekannt, ob Christian Morgenstern Fleisch ass oder – wie es zu dieser Zeit etwa unter den Künstlern auf dem Monte Verità üblich war – vegetarisch lebte. Von der moralischen Überlegenheit, die gewisse Vegetarier auszustrahlen pflegten (und pflegen), distanzierte er sich jedenfalls in folgendem Gedicht, dessen Zeilen wir der Leserschaft abschliessend zu Gemüte führen möchten.    

Der Hecht  

Ein Hecht, vom heiligen Anton
bekehrt, beschloss, samt Frau und Sohn,
am vegetarischen Gedanken
moralisch sich emporzuranken.  
Er ass seit jenem nur noch dies:
Seegras, Seerose und Seegries.
Doch Gries, Gras, Rose floss, o Graus,
entsetzlich wieder hinten aus.  
Der ganze Teich ward angesteckt.
Fünfhundert Fische sind verreckt.
Doch Sankt Anton, gerufen eilig,
sprach nichts als: Heilig! heilig! heilig!