Von der Birehütte geht der Blick über das tief ausgeschnittene Tal der Gantrischsense hinüber zum Gurnigel und zum Selibüel. Auf der anderen Seite erhebt sich stolz und finster der mächtige Gupf des Gantrisch. Es gibt keinen Ort auf der Welt, wo Adrian Mäder lieber ist als hier, zwischen Tannenwäldern und Weiden, bei seinen geliebten Tieren. Als er seiner grossen Schwester die ersten zwei Ziegen für je fünf Franken abkaufte, ging er noch nicht zur Schule. Heute ist er 15 und jeweils während der Sommerferien und an den Wochenenden Ziegenhirt. Auf der Birehütte ist er verantwortlich für eine Herde von 90 Ziegen.

Insgesamt 14 Geissen und 11 Gitzi gehören ihm selber, die übrigen – samt einem Bock – sind «Feriengäste». Sie gehören Bauern aus Dörfern in der Umgebung von Schwarzenburg BE, wo Adrian zu Hause ist. Die Tiere verbringen den Alpsommer auf der Birehütte, 1640 Meter über Meer. Es seien «Baschterli», erklärt er, «doch nach der Lehre möchte ich rassereine Saanenziegen züchten». Diese wurden einst in der Region gezüchtet und gelten als gute Milchziegen mit friedlichem Charakter.

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Von Hand melken geht schneller
Adrians Tage beginnen früh. Kurz nach fünf Uhr ist Tagwache, um sechs melkt er die Ziegen. Dazu steht ihm eine Melkmaschine zur Verfügung, ausgerüstet mit zwei statt vier Zitzenbechern, die weniger stark ziehen. «Aber im Winter, wenn ich nur meine eigenen Ziegen melken muss, geht es von Hand schneller», meint er. Das kleine Ziegen­euter hat der erfahrene Ziegenhirt flink ausgemolken, die Melkmaschine hingegen muss erst einmal angehängt werden. 

Gegen sieben Uhr geht die Stalltüre auf und die Tiere stürmen ins Freie. In der näheren und weiteren Umgebung der Alp kennen sie sich bestens aus. Es kommt immer mal wieder vor, dass Vater und Sohn Mäder Stunden damit verbringen, die gewitzten Kletterkünstler zu suchen und nach Hause zu treiben – trotz der Hilfe ihrer Treibhunde. Richtig mühsam wird es, wenn Touristen die Ziegen anlocken, sodass sie ihnen folgen. Denn die Tiere können überaus zutraulich zu Fremden sein, besonders wenn diese mit Leckerbissen locken. So kommt es immer mal wieder vor, dass er Ziegen auf dem Parkplatz bei der Gantrischhütte holen muss.

Von den steilen Bergweiden allerdings kommen sie meist selbstständig zurück. Denn gegen Abend drückt das Euter, und die Geis­sen wollen ein zweites Mal gemolken werden. Verglichen mit einer Kuh ist die Ausbeute bescheiden: Eine gute Milchziege bringt es täglich auf drei Liter Milch. Insgesamt sind es zwischen 100 und 150 Liter pro Tag, die im kupfernen Käsekessi in der einfachen, heimeligen Wohnküche der Birehütte landen. Das Käsen ist die Aufgabe der Mutter, die jeden Tag eine Reihe der kleinen Käselaibe in den Käsekeller unter dem Stall legt. 

Wenn ich auf die Berge steigen kann, dann ist das für mich wie Ausgang

Adrian Mäder
Jung-Ziegenhirt

Eigenes Geld verdienen
Die Vereinbarung zwischen Eltern und Sohn Mäder sieht so aus: Adrian gibt seiner Mutter die Milch gratis ab, den Erlös aus dem Schlachten der Gitzi hingegen darf er behalten. Es liegt auf der Hand: Die herzigen kleinen Geisslein, die so lustig über die Alpwiesen tollen, können nicht alle am Leben bleiben. Es trifft sich gut, dass Vater Hans Mäder im Erstberuf Metzger ist. «Unsere Kinder haben nie Taschengeld bekommen», erklärt Mutter Anita Mäder, «aber wir gaben ihnen die Möglichkeit, selber etwas zu verdienen, und haben sie darin unterstützt. So lernen sie den Wert des Geldes schätzen.»

Adrian weiss genau, wofür er sein Geld ausgeben will. An der Schafscheid von Riffenmatt BE kauft er Jahr für Jahr eine Treichel für seine künftige Herde; inzwischen hat er schon eine rechte Sammlung beieinander. Er träumt nicht nur von Saanenziegen, sondern auch von einer stattlichen Rinderherde. Schliesslich besitzt er auch schon mehrere Kühe, selbstverständlich mit Hörnern. Müsste er sich entscheiden zwischen Ziegen und Rindern, es würde ihm schwerfallen. Tiere sind sein Leben, und um die Birehütte tummeln sich neben Rindern und Ziegen auch Esel, Schweine, Kaninchen und Hunde. Nur Schafe mag er nicht besonders, «die sind mir zu dumm».

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Die Gitzi blieben heute etwas länger in ihrem Verschlag im Stall, bis gegen 10 Uhr auch sie an die frische Luft dürfen. Sie kapieren auch nicht auf Anhieb, dass es nun ins Freie geht, als Adrian Mäder das Türchen öffnet. Er steigt über die Abschrankung und bugsiert sie einzeln durch die Öffnung. Draus­sen hilft Prinz, der Treibhund, mit, dass die eigenwilligen Tiere das Stalltor finden.

Draussen jedoch gibt es kein Halten mehr. Begeistert jagen sie einander nach, führen die tollsten Bocksprünge vor, rennen mal hierhin, mal dorthin und klettern auf alles, was ihnen irgendwie erkletternswert scheint. Adrian kennt jede Ziege samt ihren Eigenheiten, auch wenn die Kleinen noch keinen Namen haben.

Schafe sind mir zu dumm.

Adrian Mäder
Jung-Ziegenhirt

Lieber Alp als Schwingfest
Sind die Ziegen einmal auf der Weide, hat Adrian mit ihnen nicht mehr viel zu tun. Dann hilft er seinem Vater bei seinen 170 Guschtis, zwischendurch kann er auch einmal den Tag und die herrliche Bergwelt geniessen. Ihm ist anderes wichtig als anderen Jungen in seinem Alter. Komfort, faulenzen, die Badi oder der Ausgang bedeuten ihm wenig. «Wenn ich auf die Berge steigen kann, dann ist das für mich wie Ausgang», meint er gleichmütig. Die «Stadtbuben» in seiner Schulklasse fänden das zwar komisch, aber das sei ihm egal. «Ich habe Kollegen, die sehen das genauso wie ich. Das reicht mir.»

Auch im Winterhalbjahr kümmert sich der Teenager lieber um die Rinder und die Ziegen, als mit Gleichaltrigen herumzuhängen. In der Freizeit macht er im Schwingklub mit und gilt als talentierter Jungschwinger. Auf Anhieb errang er an seinen ersten Wettkämpfen bereits Zweige. Um wirklich erfolgreich zu sein, müsste er jedoch regelmässiger trainieren und an Schwingfesten teilnehmen. Doch dafür müsste er teilweise auf die Alp verzichten – und das ist es ihm dann doch nicht wert.

Viel lieber steht er im Stall, sei es unten im Tal oder auf der Birehütte. Die letzten Jahre übernahm er jeweils die Verantwortung für den Hof und das Vieh, wenn die Eltern in die Ferien fuhren. Im Notfall hätte er zwar anrufen können, doch nötig war das nie. Vielleicht liegt die Ziegenliebe in seinen Genen, denn schon die Grosseltern hielten Ziegen. So wird sein Berufswunsch niemanden wirklich erstaunen: «Bauer.» Ohne Wenn und Aber.