Schottland. Es herrscht eine friedliche Abendstimmung. Nur das Zirpen der Grillen ist zu hören. Plötzlich klettert eine unscheinbare Gestalt auf einen Baum und hangelt sich durchs Geäst. Es handelt sich um den englischen Naturkünstler Andy Goldsworthy. Für sein seltsames Tun interessieren sich in diesem Moment nur ein paar Kühe, die neugierig über einen Zaun blicken. Was Goldsworthy mit dieser Aktion aussagen möchte, bleibt unklar. Es gelingt ihm aber, den Zuschauer in den Bann der wundervollen Landschaft zu ziehen. Fast wähnt man sich an seiner Seite, bereit, sich in der schottischen Idylle zu verlieren. 

Viel Zeit bleibt allerdings nicht, denn schon geht es weiter nach England, dann in die USA, nach Gabun, Südfrankreich und nach Spanien. Egal in welchem Land, immer wieder setzt Goldsworthy seinen Körper ein, er arbeitet im Wald und in der Stadt, mal allein und mal mit seiner erwachsenen Tochter Holly. Mit ihr platziert er zum Beispiel eine schneeweisse Plane mitten auf einer Weide, um sie mit den Hufabdrücken von Schafen verzieren zu lassen. Zusammen legen sie Stufen einer Treppe in Glasgow mit farbigen Blättern aus, bis der Regen sie schliesslich wegspült. «Durch die Arbeit mit den Blättern versteht man den Baum und durch den Baum die Erde und den Raum, den er einnimmt», kommentiert der Engländer sein vergängliches Kunstwerk. 

Sinnlicher Blickwinkel auf die Natur
Besonders angetan hat es Goldsworthy eine umgestürzte Ulme an einem Bach im schottischen Dumfriesshire. Hier findet er nach eigenen Aussagen stets neue Ansätze für sein Schaffen. Er gestaltet beispielsweise die Bruchstellen und Risse mit den gelben Ulmenblättern, bis diese nach dem ersten strengen Frost schlagartig schwarz werden. «Das gefällt mir», sagt der Künstler knapp und lächelt verschmitzt in die Kamera. Kurz darauf wird er aber nachdenklich. «Das Gelb verschwindet allmählich aus der Landschaft, weil die Bäume sterben. Ich habe jetzt weniger Gelb zur Verfügung als vor 30 Jahren, als ich hierherkam.»

Der Dokumentarfilm «Leaning Into the Wind» (auf Deutsch: «Gegen den Wind gelehnt») porträtiert nicht nur feinfühlig einen aussergewöhnlichen, verschrobenen Künstler und seine faszinierenden Werke, sondern bietet einen sinnlichen Blickwinkel auf die Natur. Er zeigt Landschaften in neuen, berührenden Formen und entfaltet dabei eine geradezu meditative Wirkung. Etwa, wenn Goldsworthy seine Hand mit feuerroten Mohnblumenblüten umwickelt und scheinbar mit ihnen eins wird. Und wie in der Schlussszene eindrücklich demonstriert, reicht manchmal ein böiger Windstoss, um sich der Kraft der Natur wieder bewusst zu werden und sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen. 

«Leaning Into the Wind», Dokumentarfilm, 93 Minuten, Verleih: Filmbringer AG, ab 1. März in ausgewählten Schweizer Kinos.

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