Kühler Wind fegt durch die kargen Gassen von Stornoway, dem Hauptort von Lewis, und lässt die wenigen Touristen in ihren warmen Jacken frösteln. Die Einheimischen sind derweil in Shorts und T-Shirt unterwegs, bärtige Männer, sturmfeste Frauen. Wer hier geboren wurde und nicht aufs Festland flieht, steckt einiges ein. Denn hier ist das Ende der Welt, der äusserste Vorposten menschlichen Lebens, letzte Station vor dem Nordatlantik. 

Trotzdem sind schon vor Tausenden von Jahren Menschen auf die Äusseren Hebriden gekommen. In Callanish auf Lewis errichteten sie auf einem flachen Hügel eine Anlage aus aufrecht stehenden, kreuzförmig angeordneten Steinen, die sich um einen Steinkreis gruppieren. Wurden hier die Götter angerufen? Menschen geopfert oder begraben? Die Sterne bestimmt? Die Forscher können nur vermuten. Die Anfänge von Callanish reichen in die Jungsteinzeit vor etwa 5000 Jahren zurück und sind damit womöglich älter als Stonehenge. Heutige Besucherinnen und Besucher lassen sich von der Mystik des Ortes verzaubern. In der Nebensaison ist es aber immer noch möglich, Callanish für sich allein zu haben.

Katastrophe mit Spätwirkung
Vor 100 Jahren ereignete sich die Katastrophe, welche die Inseln bis heute traumatisiert. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs bestiegen am Abend des 1. Januar 1919 Rückkehrer die «Iolaire», die sie in ihre Heimat Lewis bringen sollte. Bei der Einfahrt in den Hafen von Stornoway kam der Dampfer im Sturm vom Kurs ab, rammte einen Fels, schlug leck und sank. 205 Männer starben, 79 konnten sich retten. Zusammen mit den Kriegsgefallenen fehlte der Insel ein grosser Teil der jungen Männer. Viele junge Frauen hatten in der Folge keine Perspektiven mehr und wanderten in die USA aus. 1930 reiste die 18-jährige Mary Anne MacLeod nach New York, wo sie als Hausmädchen arbeitete. 1936 heiratete sie einen gewissen Fred Trump – und wurde Mutter des heutigen US-Präsidenten Donald Trump.

 

Moor, so weit das Auge reicht
Die Erhebung von Callanish erlaubt einen Rundblick bis zu den Bergen, die Harris, den Südteil der Doppelinsel, vom Nordteil Lewis trennen. Auf grünen Wiesen weiden die Schafe, deren Wolle den berühmten Harris-Tweed ergibt. Dazwischen liegen stille, schwarze Lochs, von denen es auf den Inseln unzählige gibt. Dahinter Moor, so weit das Auge reicht. Über dem felsigen Untergrund der Inseln staut sich der üppige Regen, sodass sie grossteils von Torfmoor bedeckt sind. Noch heute bauen die Einheimischen Torf ab, um damit zu heizen. Im Winterhalbjahr zeigen sich die Moore braun in braun. Ab Frühsommer leuchten sie in allen Farben. Dann gedeihen Gräser, Moose und Flechten neben Raritäten wie dem insektenfressenden Sonnentau und verschiedenen Orchideen.

Wald hingegen ist auf den Inseln rar. Feuer und die intensive Beweidung durch Schafe liessen die einstigen Wälder bis auf kleine Reste schrumpfen. Die grösste Waldfläche befindet sich um das Schloss von Stornoway und ist einen Spaziergang wert. Zwar wurden in den letzten Jahrzehnten Versuche unternommen, Nadelholz anzupflanzen, doch Schädlinge machten die Hoffnungen zunichte.

Die Äusseren Hebriden sind dünn besiedelt. Rund 27 000 Einwohner verteilen sich auf gut 3000 Quadratkilometer, was etwa neun Personen pro Quadratkilometer ergibt. Zum Vergleich: Im Schweizer Mittelland sind es 380 Menschen. Rund 21 000 Personen leben auf Lewis and Harris, davon zwei Drittel in Stornoway und Umgebung. Besiedelt sind die grössten der Inseln: Lewis and Harris im Norden, North Uist, Benbecula und South Uist sowie im Süden Barra.

Das Gemüse in den Supermärkten ist importiert. Selbst Hausgärten gibt es kaum. Zu mager ist der Boden, zu unfreundlich das Klima. Doch frühere Bewohner hatten keine Wahl. Sie rangen dem nassen Boden Ackerland ab, indem sie Lazybeds anlegten. Diese Hochbeete waren durch Gräben im Abstand von fünf bis zehn Metern getrennt, sodass die Feuchtigkeit abziehen konnte. Vielerorts sind die Spuren der Lazybeds noch zu sehen, doch entweder hat sie das Moor zurückerobert oder sie wurden zu Schafweiden.

Wie man noch bis vor einem halben Jahrhundert lebte, zeigt das Blackhouse von Arnol. Das strohgedeckte Langhaus duckt sich unter den unablässigen Winden. In der Küche verbreitet ein offenes Torffeuer beis­senden Qualm. Ein paar Schafe und Hühner, dazu das, was die Hochbeete hergaben – die Menschen lebten ärmlich. Auch heute herrscht Zweckmäs­sigkeit vor: schmucklose Häuschen in schmucklosen Vorgärten, wie zufällig in die Landschaft geworfen. Die Melancholie hat Schriftsteller inspiriert: Simon Beckett lässt seinen Krimi «Kalte Asche» auf den Äusseren Hebriden spielen.

Viele Vögel, viel Natur
Seit dem 18. Jahrhundert bessern die Insulaner ihre Einkünfte auf, indem sie Wollstoffe weben. Harris Tweed ist das wichtigste Exportgut und der grösste Stolz von Lewis and Harris. Nur was hier gefärbt, versponnen und in Heimarbeit mit fussbetriebenen Webstühlen gewoben worden ist, erhält das Qualitätssiegel der gestrengen Harris Tweed Authority, den Orb Mark. Eine junge Generation traut sich an frische Farbkombinationen und stellt aus dem Tweed Sweat-Shirts und andere moderne Kleidungsstücke her. Die Tweed-Herstellung gibt vielen Familien ein Auskommen. Trotzdem nimmt die Bevölkerungszahl ab. Die Jungen ziehen zur Ausbildung weg, viele kehren nicht zurück. Fischfang, Schafzucht, etwas Tourismus sowie die Tweed-Weberei, viel mehr gibt es nicht.

Ein Paradies sind die Äusseren Hebriden für die Vögel. 127 Arten wurden gezählt, über 100 von ihnen brüten hier. Sturmvögel, Papageitaucher, Kormorane und Möwen teilen sich die Klippen. Wildgänse spazieren am Strassenrand, in den Mooren suchen Brachvögel, Reiher und Regenpfeifer nach Nahrung. In den Reservaten lassen sich mit etwas Glück Stein- und Fischadler, Wanderfalken und Habichte beobachten, die Jagd auf Kaninchen und unvorsichtige Lämmer machen.

Säugetiere hingegen gibt es nur wenige. Heimisch sind Rothirsch und Otter; Kaninchen, Igel, Ratten, Iltis oder Katzen wurden von den Menschen eingeschleppt. Rund um die Inseln tummeln sich viele Robben und Seehunde im klaren, fischreichen Wasser und scheinen ebenso neugierig auf die Zweibeiner zu sein wie umgekehrt.

Die grossen Touristenströme ziehen an den Inseln vorbei. An den Traumstränden und auf den wilden Klippen, den Weiden und den Mooren findet nicht nur die Natur ihren Platz, sondern auch Menschen, die Einsamkeit und Abgeschiedenheit suchen.