In einem ruhigen Wohnquartier in Winterthur ZH steht, von der Strasse aus etwas zurückversetzt, ein unscheinbar wirkender Holzschuppen. Wer ihn betritt, hat den Eindruck, in der Zeit zurückgereist zu sein. Die «Seilerei Kislig» gibt es seit 1878. Die meisten Maschinen im Seilerschuppen sind nicht viel jünger. Hier wird mit Mitteln gearbeitet, die vor einem Jahrhundert der neueste Stand der Technik waren und sich bis heute bewähren.

Die Strassenfassade zeigt nur die Schmalseite des Schuppens. Nach hinten ist die Seilerwerkstatt beeindruckende 93 Meter lang. «Lasse ich die Tür am Werkstattende offen, ist sie sogar 116 Meter lang», sagt der Seiler Martin Benz, «vorausgesetzt, ich mähe vorher draussen.» Auf dieser Strecke kann er Seile bis gut 100 Meter Länge herstellen. «Das genügt für so ziemlich alles, was meine Kunden brauchen», sagt Benz. 

Während er spricht, geht er mit gleichmässigen Schritten die gut 90 Meter unermüdlich auf und ab, um den Hanf für die nächsten Seile in die Maschine einzulegen. So spult er Tag für Tag einige Kilometer auf der immer gleichen Strecke ab. Ist das Material eingelegt, dreht die Maschine den Hanf zu Strängen, die der Seiler mithilfe eines Leitholzes, eines einfachen runden Holzes mit Einkerbungen für die einzelnen Stränge, anschliessend zu einem Seil zusammenführt. Durch den Längenverlust beim Verdrillen entstehen aus 90 Metern Fasern 60 Meter fertiges Seil. 

Öffnungszeiten sind Glückssache
Wegen der langen Werkstatt hat sich Benz ein Trottinett angeschafft, das spart enorm Zeit. «Wenn ich hinten bei 90 Metern am Einrichten der Maschine bin und vorne kommt ein Kunde herein, kostet mich das sonst schnell mal eine Viertelstunde, selbst wenn er nur schnell eine Rolle Schnur kaufen will.» Seine Arbeit ist trotz dem Hin und Her auf der immer gleichen Strecke ausgesprochen abwechslungsreich. Die Arbeitstage gleichen sich so wenig, dass er es nicht einmal schafft, mit Sicherheit die Öffnungszeiten einzuhalten, die an der Werkstatttür angeschlagen sind.

Manchmal richtet er die Maschinen ein, dann kommt ein spezieller Auftrag und er muss alles wieder abbauen. Oder das Telefon klingelt und jemand möchte, dass er möglichst sofort etwas anschauen kommt. Also wird die Werkstatttür abgeschlossen und Kunden, die auf gut Glück ohne Voranmeldung vorbeischauen, können schon mal Pech haben. «Mit der Zeit lernen sie dann, vorher anzurufen», sagt Benz achselzuckend.

Regelmässig bietet er auch Führungen durch die Werkstatt an, bei der die Teilnehmenden natürlich auch selbst Hand anlegen können. Aber auch da lässt sich nicht alles planen: So fuhr beispielsweise einmal ein riesiger Kranwagen vor, dem das Drahtseil gerissen war. Der konnte nicht warten, bis Benz seine Führung beendet hatte. Denn die teuren Stunden auf der Baustelle laufen weiter. «War aber auch nicht schlimm, am Ende stand die ganze Gruppe begeistert am Kran und schaute mir beim Arbeiten zu», sagt Benz, den nichts so schnell aus der Ruhe bringt.

Die Maschinen und Werkzeuge hat Seiler Benz vom Vorbesitzer Albert Kislig übernommen, von dem der Name der Seilerei stammt. Mit 78 Jahren fand dieser es an der Zeit, sich zur Ruhe zu setzen. Auch Kislig hatte schon fast alles von seinem Vorgänger übernommen. Kein Wunder, scheint die Zeit in dem Handwerksbetrieb stehen geblieben. 

Seile für Affen, Hunde und Katzen
Benz ist nicht nur Seiler, er muss auch sein eigener Mechaniker sein. Falls ein Teil kaputtgeht, gibt es keine Ersatzteile und niemanden, der mit solch alten Maschinen Erfahrung hätte. Also schweisst der 43-Jährige selbst, was nötig ist. Das ist weniger, als man meinen sollte. «Wenn man die Maschinen gut pflegt und immer reichlich schmiert, halten sie ewig.»

Er hat an der Seilerei kaum etwas verändert. Für ihn stimmte alles. Was er brauchte, fand er vor. Vor einigen Jahren hat er nebenbei noch im Freilichtmuseum Ballenberg eine Schauseilerei mit Maschinen aus altershalber aufgegebenen Betrieben eingerichtet, die einen Tag pro Woche in Betrieb ist.

In der Schweiz gibt es heute noch zwölf Seilereien. Benz und die anderen kommen gut aneinander vorbei – als Einmannbetrieb nimmt er Aufträge an, die für grössere Betriebe nicht interessant wären. Spezialanfertigungen, die man so nirgendwo anders mehr bekommt. Er stellt Trapeze für Artisten her, Spezialseile für Zauberer, macht Seile für Spielplätze. Sogar die Affen im Zürcher Zoo hangeln sich an dicken Seilen aus seiner Produktion durchs Gehege. Anders als früher braucht es heute in Landwirtschaft und Bau kaum noch Seile. Springseile oder Kletternetze dagegen sind nach wie vor gefragt. 

Dank seiner eigenen, offensichtlich anspruchsvollen Katze produziert Benz auch Katzenbäume. Sie habe ihr fertig gekauftes Exemplar nur hochmütig betrachtet. Benz konnte sie verstehen: «Die Katzenbäume in den Läden gefallen mir auch nicht.» Also hat er einen eigenen entworfen. «So ein Baum ist dafür da, dass die Katze ihn statt der Möbel kaputt macht», sagt Benz. «Also habe ich das stabilste Material genommen, das ich habe – Spannteppichfasern.» Die kriege die stärkste Katze nicht klein, versichert er. 

Er verarbeitet die Fasern zu einem besonders dicken Seil, wie es nicht alle Tage gebraucht wird. «Ich habe eine Leidenschaft für dicke Seile. Die kann ich hier so richtig ausleben», gesteht er augenzwinkernd. Für Hunde hat er Wurfseile mit kunstvollem Knoten im Sortiment – schwimmfähige aus Kunststoffseilen und normale aus Hanf.

Regelmässig kommen Pakete mit antiken Uhren, bei denen die speziellen Schnüre, die sie antreiben, ersetzt werden müssen. Je mehr Benz dafür tüfteln muss, desto lieber. Massenproduktion ist nicht sein Ding. «Ich bin der Letzte, der von Hand mit Naturmaterialien und auf der langen Bahn arbeitet. Die grossen Seilereien sind voll durchautomatisiert, die kann man fast schon vom Büro aus steuern.» 

Benz spannt aber oft mit ihnen zusammen, etwa bei der Materialbestellung. «Ich brauche als Einmannbetrieb kleine Mengen. Das mögen die Händler nicht. Flachs zum Beispiel kriegt man erst ab einer Tonne. Ich brauche aber nur 400 Kilogramm.» Selbst die Preisliste übernimmt er von der «Konkurrenz» und spart sich so den Kalkulationsaufwand. «Wenn die mit ihren Preisen auskommen, kann ich es auch.»

Über die Schulter geschaut
Von Haus aus ist Benz nicht Seiler, sondern Zimmermann. Auf die Seilerei brachte ihn seine Frau. Sie bezog für ihre Installationen als Dekorationsgestalterin öfters Material bei Albert Kislig. Einmal begleitete Martin Benz sie und war sofort fasziniert von diesem Handwerk. Da passte es gut, dass er ohnehin gerade auf Arbeitssuche war und Zeit hatte.

Danach sei er immer wieder hingegangen, um Albert Kislig bei der Arbeit über die Schulter zu schauen. «Anfangs hat er sich genervt, dass da immer einer zugeschaut hat. Später hat er sich genervt, wenn ich einmal nicht gekommen bin.» Nach einem halben Jahr fing er schliesslich an, Lohn von Kislig zu beziehen. Der betagte Seilermeister versprach, er dürfe eine Lehre bei ihm machen, sofern er hinterher die Seilerei übernehme. Und er hielt Wort. Am Tag nach der Prüfung konnte Benz den Betrieb übernehmen. Seitdem weiss er nie, was morgen kommt. Und bei jedem Regen ist er froh, dass er jetzt Seiler im trockenen Schuppen ist und nicht mehr Zimmermann.