Er wohnt in einer Villa mit französischem Barockgarten auf der appenzell-ausserrhodischen Sonnenterrasse Teufen. «Ich kann mir und meiner Familie das nur wegen des sehr günstigen Mietzinses leisten», sagt Marius Tschirky. Der Wahl-Appenzeller ist weder Arzt noch Anwalt, sondern hat vor 20 Jahren als mitleidig belächelter Waldkindergärtner angefangen, in einem Forst oberhalb des St. Galler Frauenklosters Notkersegg. Damals, 1998, sind fast gleichzeitig in der Schweiz die beiden ersten Waldkindergärten entstanden: in St. Gallen, getragen von einem Verein, und im zürcherischen Brütten, finanziert von der Gemeinde. Als Rüstzeug für den Job hatte Tschirky lediglich eine Ausbildung für den Regelkindergarten vorzuweisen. Harte Pionierjahre standen bevor.

Positives Echo in den Medien
«Obwohl in Skandinavien und Deutschland schon Waldkindergärten existierten, gab es keine Möglichkeit, dort zu hospitieren», sagt Tschirky. Er musste seinen Beruf selbst neu erfinden und sich dabei autodidaktisch im Wald und in der Natur vorantasten. Er verschlang tonnenweise Sachliteratur und führte unzählige Gespräche mit Leuten, die im Wald arbeiteten. Er dachte sich Lieder und Geschichten für seine Kindergärtler aus und führte seine Schützlinge nicht nach Lehrplan, sondern individuell, mit viel Einfühlungsvermögen in die Pflanzen- und Tierwelt, die das Leben des Waldes ausmachen. 

Die Aussenwelt sah anfänglich wenig Sinn darin. «Wie kann man nur als gestandener Mann mit kleinen Kindern im Wald herumkriechen», fragte ein Bauer aus der Nachbarschaft verdutzt. Und Hündeler, die ihre Tiere frei im Wald laufen liessen, nahmen diese auf die Bitte von Tschirky nicht an die Leine. «Warum sollten wir?», fragten sie. «Die tun doch niemandem etwas.» Währenddessen frassen die Hunde aber den Waldkindergärtlern den Znüni aus der Tupperware.

Anders als bei den Einheimischen stiess Tschirkys Idee bei den Medien auf Sympathie. Nach einem Jahr Waldkindergarten stand in einer Reportage des «Beobachters»: «Für die zwölf St. Galler Kindergartenkinder, die allmorgendlich um Viertel vor neun mit Marius Tschirky losziehen, ist der Wald mitsamt dem unaufhörlichen Wechsel von Jahreszeiten und Witterungen eine Selbstverständlichkeit geworden.» Der «Blick» und gar die italienische «Vogue» zogen nach. Und Fernseh-Talker Kurt Aeschbacher vertauschte seinen quietschbunten Anzug mit etwas Wetterfestem und kam mit Kamera- und Tonleuten zu Besuch zu Tschirky und den Waldkindergärtlern.

Heute hätten die Anfeindungen abgenommen und Waldkindergärten seien akzeptiert, sagt Tschirky. Aber es gebe trotzdem noch Ansichten, dass es sich dabei um Hippie-Zeug und Kuschel-Pädagogik handle. Bedeutende Pädagogen und Psychologen schätzen die Waldkindergärten im Gegensatz dazu schon lange, weil Kinder ihrer Meinung nach verknüpftes Denken in der Natur besser erlernen als im sterilen Klassenzimmer.

Marius & die Jagdkapelle im Musikvideo zum Lied «Kaktus» von ihrem neuen Album «Hirschschnauzdisco»:

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Nach seinen Pionierjahren im Wald hat Tschirky eine zweite Karriere gestartet – mit grossem Erfolg: Er ist ein Star in der Deutschschweizer Kindermusikszene und tourt seit 2005 als Frontmann von «Marius & die Jagdkapelle» durch Konzertsäle und Openairs. «Eigentlich wollte ich nie Kindermusikstar werden», sagt er. Er träumte vom Erfolg als Rockmusiker; dort sind seine Wurzeln, die Kindermusik sollte nur ein Zwischenstopp sein. Aber es kam anders. Der frühere Manager von «Stiller Has», Yogi Birchler, kam begeistert von einem Konzert der Jagdkapelle zurück. Er ebnete der Band den Weg in die Kindermusikszene. 

Er brachte Rock in die Kinderstuben
Andrew Bond, einer der führenden Kindermusiker in der Schweiz, sagte nach dem Erscheinen der Jagdkapelle auf den Konzertbühnen bald einmal: «Es gab die Kindermusik bevor die Jagdkapelle kam, und es gibt die Kindermusik danach.» Damit meinte er, dass die Jäger-Band den Rock in die Sparte brachte. «Wir waren die ersten, die inszenierte Konzerte machten», sagt Tschirky. Die Band tritt im Jäger-Outfit auf und zieht eine durchorchestrierte Show ab. «Das beste Kompliment ist es, wenn Väter sagen: ‹Endlich einmal eine Kinderband, die auch uns anspricht.›» 

Die Jagdkapelle greift in ihren Liedern mehrheitlich Naturthemen auf – auf witzige und kindgerechte Weise. Ein bekannter Song dreht sich um den «Specht», der vom ganzen Geklopfe am Baumstamm Kopfweh bekommt. In einem anderen Lied singen Marius und seine Band über einen Eisbären im Gefrierfach. Aber die Jäger verstehen sich auch auf soziotechnische Parodien, etwa mit dem Lied «Grätli», wo der vernachlässigte Bub einer smartphonesüchtigen Mutter die elektronische Droge bald mal übers Klo wegspült.

Die Tschirkys sind eine Patchwork-Familie mit vier Kindern. Ehefrau Gina ist auch Naturpädagogin. Sie haben «Sonnwendlig» gegründet. Über dieses Familienunternehmen leitet Gina Tschirky die Waldspielgruppe in Teufen und Marius bietet Kurse und Vorträge in Naturpädagogik an. Er ist auch Mitinhaber der Zürcher Musik- und Kulturagentur Hotzenplotz Entertainment und Referent an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. In St. Gallen unterhält er zudem einen Kreativ-Loft, der unter anderem als Tonstudio und Lagerraum dient. 

Die Zeit der Helikopter-Eltern
Mit seinen Liedern will Tschirky einer Entwicklung Einhalt tun, die Kinder immer weiter weg von der Natur bringt: «Da hat sich einiges verändert, wenn ich mit meiner Kindheit vergleiche und dem, was wir mit dem Wald alles anstellen durften: Feuer machen und frei herumtoben – ohne dass sich jemand einmischte», sagt der Musiker und Naturpädagoge. «Heute ist das in grossen Teilen der Bevölkerung anders.» Die Angst der Eltern halte die Kinder vielfach davon ab, in den Wald zu gehen. «Es gibt mehr Eltern als zu meiner Zeit, die immer um die Kinder herumschwirren wie die Helikopter. Statistisch gesehen passiert aber weniger im Wald als früher. Warum also diese Angst?»

Vielleicht schafft da «Guete Morge, liebe Wald» Abhilfe. Das neuste Werk von Marius Tschirky soll Kinder in die Natur locken – mit Noten, Akkorden, naturpädagogischen Ausführungen und Begleit-CD. Für die Kinderstube gibt es auch musikalischen Nachschub: Im Mai ist die neue CD der Jagdkapelle erschienen: «Hirschschnauzdisco» heisst sie.