Verlassene Orte haben etwas Gespenstisches an sich. Ob eine zerfallende Bauruine, eine überwucherte Strasse oder einfach ein leerer Supermarkt: Wo Leben fehlt, wird das Schlimmste vermutet. Gab es einen Krieg? Einen Atomunfall? Oder nur einen Bankrott? 

Der Bildband «No Man’s Land» füllt verlassene Orte wieder mit Leben, aber nicht mit menschlichem, sondern mit tierischem. So stehen plötzlich Elefanten in einer Tiefgarage, Flamingos staksen durch einen baufälligen Innenhof und ein Schweinchen untersucht eine zerfallende Kathedrale. 

Allmählich – so scheint es – holt sich die Natur zurück, was ihr genommen wurde. Verantwortlich für diese Rückeroberung ist der belgische Pilot und Fotograf Henk van Rensbergen. Vier Jahre lang hat er an dem Buch gearbeitet, nach Schauplätzen gesucht, die sich mit Tieren bevölkern liessen. «Und das meine ich nicht im logistischen Sinne», sagt er und deutet damit zumindest vage an, was er im Buch nicht explizit verrät: dass die Tiere durch digitale Magie an die verwegensten Orte transportiert wurden. 

Orte, an denen die Tiere ihre eigene Magie entfachen. «Es klappte nicht immer, oft musste ich lange herumtüfteln, um die richtige Kombination zu finden», erklärt der Fotograf, «aber meist begannen die Tiere irgendwann, mit der Szenerie zu interagieren.»

Van Rensbergen hat seinen Tieren sprechende Namen gegeben. «Thelma und Louise» heissen die beiden frechen Hühner, die durch den staubigen Hotelflur rennen, «Madame Delvaux» die Kuh im demolierten Supermarkt und das Schweinchen in der Kirche, das hat er «Innocentius» genannt – der Unschuldige. 

Tiere in menschlichen Posen
Die schalkhaften Namen täuschen nicht über die melancholische Grundstimmung in «No Man’s Land» hinweg. Die Tiere wirken oft nachdenklich, müde, traurig. Als warteten sie darauf, dass etwas passiert, dass der Mensch in ihre Welt zurückkehrt. «Wir haben die Tendenz, unsere eigenen Gefühle in Tiere hineinzuinterpretieren», sagt van Rensbergen. Das habe er ausgenutzt und die Tiere bewusst in menschliche Posen gesetzt. «So wirken sie wie Spiegel für den Betrachter und lassen ihn vielleicht sogar realisieren, dass wir Menschen nicht unsterblich sind.» 

Dass die Welt dereinst tatsächlich aussehen könnte, wie sie der Fotograf zeigt, hofft er selber nicht. Aber: «Die Welt würde viel schöner aussehen, würden wir sie nicht verschmutzen und ihr Ökosystem zerstören.» Eine sozialkritische Ebene ist also durchaus gewollt aus den Bildern herauszulesen. Das Schwein in der Kirche erhebt van Rensbergen jedenfalls kurzerhand zum Philosophen, wenn er sagt: «Es ist interessant, wie es dieses Schweinchen schafft, uns darüber nachdenken zu lassen, wie wir unseren Planeten behandeln.»

Bei aller Sozialkritik: «No Man’s Land» ist vor allem anderen ein Kunstprojekt, ein Reiseführer an namenlose, im Stich gelassene Orte. Eindrücklich schafft es van Rensbergen, besonders in Innenräumen, das richtige Licht zu finden und seine Tiere in ebendieses zu rücken. Das verleiht diesen schaurigen Plätzen eine noch beklemmendere Atmosphäre, als sie ihnen ohnehin schon zu eigen sind. 

Gleichzeitig aber spenden die Tiere auf eine merkwürdige Weise Trost. Gesellschaft. Ganz allein gelassen ist der Betrachter in den Bildern eben doch nicht. Er hat ja noch Schweinchen Innocentius. Und auch der Fotograf lässt hoffen: «Vielleicht ist das Buch ja nur eine künstlerische Vision von einer Zukunft, die nie eintreten wird.»

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Henk van Rensbergen: No Man's Land
1. Auflage 2018 
Gebunden, 192 Seiten 
Verlag: Knesebeck, ca. 70 Franken 
ISBN: 978-3-95728-153-1