Man muss ihn einfach mögen, den Ursli, das ist beim neuen Film nicht anders als bei der Buchvorlage von 1945. Doch um mit der Geschichte hundert Filmminuten zu füllen, haben die Drehbuchautoren Stefan Jäger und Xavier Koller die Handlung kräftig ausgebaut. Uorsin, wie der Bub jetzt heisst, hilft im Bauernbetrieb seiner Eltern kräftig mit und zeigt besonderes Geschick im Umgang mit den Geissen – und mit Seraina, der Tochter einer befreundeten Familie. Als Uorsin vom Vater das Zicklein Zilla erhält, bei dessen Geburt er mitgeholfen hat, scheint sein Glück perfekt.  

Doch es ist nicht von langer Dauer. Beim Alpabzug stürzt ein Wagen ab, das Heu und der Käse landen im Bach. Damit brechen die Armuts­probleme voller Wucht auf die Familie hinein. Zu rasch sind die verbleibenden Vorräte aufgebraucht, es mangelt an Essen, Futter, Geld. Kommt hinzu, dass sich der selbstverliebte Gemeindepräsident und Dorfkrämer mehr um das Wohl seines Portemonnaies als als um das seiner Mitmenschen kümmert. Unter dem Druck seines Sohnes, Uorsins Rivale um die Gunst von Seraina, knöpft er der Familie nicht nur Uorsins Zicklein ab, sondern auch die grosse Glocke, die Uorsin am bevorstehenden Umzug hätte tragen sollen. Uorsin muss mit einer kleinen Schelle vorliebnehmen und wird deswegen von der versammelten Dorfjugend als «Schellen-Ursli» gehänselt.

Wie es weitergeht, ist hinlänglich bekannt: Uorsin macht sich auf den Weg, um die grosse Glocke aus dem Maiensäss zu holen. Die Gefahren, denen er auf dem Weg dorthin begegnet, sind allerdings im Film weit grösser als in der Buchvorlage, wobei auch der Wolf einen bedeutenden Auftritt hat.

Idyllische Scheinwelt statt harter Realität
Regisseur Xavier Koller hat mit Filmen wie «Der schwarze Tanner», «Eine wen iig, dr Dällebach Kari» und zuletzt «Die schwarzen Brüder» schon seine Vorliebe für historische Schweizer Stoffe bewiesen. «Schellen-Ursli» hat mit dem Thema Armut zwar latente soziale Brisanz, doch Koller mutet dem Publikum nicht die volle Härte der Berg­bauern-Realität zu, sondern bleibt in einer idyllisierten Scheinwelt. Ausgehend von den Original-Illustrationen von Alois Carigiet entwickelt er eine starke Bildsprache – wer das Buch kennt, wird einzelne Szenen wiedererkennen. Auch der Umgang der Menschen untereinander ist beschönigt, es wird nie geschlagen und kaum geschrien. Damit bleibt «Schellen-Ursli» in erster Linie ein unterhaltsamer Kinderfilm und wird nicht zum historischen Drama.

Jonas Hartmann als Uorsin und Julia Jeker als Seraina, beide Jahrgang 2003, spielen sich in die Herzen der Zuschauer. Tonia Maria Zindel, bekannt aus «Lüthi & Blanc», darf als Uorsins Mutter zwischendurch ein paar Brocken in ihrer Muttersprache Rätoromanisch einfliessen lassen, und mit Andrea Zogg fand sich auch für die Rolle des Pfarrers ein passender Bündner Schauspieler. Herausragend zeigt sich Marcus Signer, der vergangenes Jahr bereits in der Hauptrolle von «Der Goalie bin ig» brillierte. Als Uorsins Vater ist er voller Stolz und Liebe für den Sohn, bricht aber unter den Existenzängsten schier zusammen

Von diesen Ängsten dürfte dem Publikum – auch dem kindlichen – ruhig etwas mehr zugemutet werden. Der Hunger ist nicht wirklich zu spüren und die Mutter, die in der Stadt arbeiten geht, wird nicht ernsthaft vermisst. Doch Liebhabern der Berglandschaften, der Traditionen, des Dialekts und nicht zuletzt Bewunderern der Tierwelt Graubündens wird der Film gefallen. 

«Schellen-Ursli», Familienfilm, ab 6 Jahren, ca. 100 Minuten, Verleih: Frenetic Films, ab sofort im Kino.

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