Am äussersten Zipfel der Gemeinde Riggisberg im Berner Mittelland prangt ein stattliches Gebäude, das man hier nicht vermuten würde: die Abegg-Stiftung mit einer gigantischen Sammlung an historischen Textilien, die Weltruf geniesst. Werner Abegg (1903–1984) stammte aus einer Zürcher Industriellenfamilie und produzierte in Oberitalien Stoffe. Früh begann er mit dem Aufbau einer Sammlung von angewandter Kunst, vor allem von gewebten Textilien. Seine Gattin Margaret, die er in den 1940er-Jahren in New York kennenlernte, hatte sich als Kunsthistorikerin bereits einen Namen gemacht. 

Gemeinsam bauten sie ihre Sammlungen aus und brachten sie in den 1960er-Jahren in ihre neu gegründete Stiftung ein. 1967 liess das Ehepaar das Museum errichten, nachdem es in den Berner Voralpen eigentlich nur seine Villa als Alterswohnsitz beziehen wollte. Die Umstände wollten es anders. Das Museum in Riggisberg, dem sich das Atelier für Textilkonservierung und -restaurierung anschliesst, ist gleichzeitig Studienort für angehende Fachkräfte. Die Sammlung umfasst mehr als 7000 kunsthistorisch wertvolle Textilien, die von der vorchristlichen Zeit bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts reichen. Jeweils im Sommerhalbjahr richtet die Stiftung eine spezielle Ausstellung zu einem bestimmten Thema ein. «Freund und Feind» heisst das diesjährige Motto, es widmet sich der Tierdarstellung in der mittelalterlichen Textilkunst.

Es herrschen kühle 18 Grad in den Ausstellungsräumen der Stiftung. In der zweijährigen Bauzeit von 2009 bis 2011 wurde der Ausstellungstrakt für die Kunstsammlung komplett erneuert, ohne den Charme der 1960er-Jahre im Foyer missen zu lassen. Eine Lichtdecke aus Milchglas mit Tausenden von LED-Lämpchen spendet ein gedämpftes Licht – ohne schädliche UV-Strahlen. Und die kühle Raumtemperatur schützt die kostbaren Stoffe ebenso. Rechte Winkel gibt es in den grosszügig konzipierten Ausstellungsräumlichkeiten nicht. Zusammen mit den Stellwänden und Schaukästen lädt das Museum ein, auf spannende Entdeckungsreise zu gehen.

Jungvögel trinken das Blut ihrer Eltern
Ein Knabe flüchtet vor einem Raubtier mit Flügeln auf den Baum. Angekettete Hunde drohen furchterregend, Spinnen krabbeln oder riesige Vögel pflücken mit spitzen Schnäbeln Blumen. Im 13. und 14. Jahrhundert galten gewebte Stoffe als Luxusgut und waren nur den adligen, reichen Familien vorbehalten. Catherine Depierraz, Mitarbeiterin des wissenschaftlichen Sekretariats, weist auf ein Kirchengewand, auf dem Panther- und Pelikan-Paare prangen. Die Vögel scheinen sich die eigene Brust aufzupicken, während zu ihren Füssen die Brut ihre Schnäbel in die Höhe reckt, um das Blut der Eltern zu trinken.

«Die Darstellung geht auf die Schriften des ‹Physiologus› zurück, in denen im zweiten Jahrhundert Pflanzen, Steine und Tiere erklärt wurden und bis ins späte Mittelalter Beachtung fanden», klärt die Wissenschaftlerin auf. Dort werde beschrieben, wie sich der Pelikan für seine Jungen aufopfert. In der christlichen Interpretation gelte er als Sinnbild für die selbstlose Aufopferung und somit als Symbol für Christus. 

Dies seien typische Bilder, die der «Physiologus» beschreibe wie zum Beispiel auch die Passage über die Hyäne in einem weiteren Stoff: «Ein Tier heisst Hyäne und ist bisweilen Frau, bisweilen Mann, und deshalb ist es sehr unrein: so beschaffen waren die, die zuerst Christus anbeteten und danach die Götzen verehrten. Damit gemeint sind die, die weder mehr Ungläubige noch Rechtgläubige sind. Darüber spricht Salomon: ‹Diejenigen, die zwiefältig sind in ihrem Herzen, die sind auch zwiefältig in ihren Werken›», heisst es im «Physiologus».

Wappentiere als Erkennungszeichen
Beliebt waren im Mittelalter auch Stoffe mit Jagdmotiven. Die Hochwildjagd auf Hirsche, Wildschweine, Bären, Luchse, Adler, Kraniche oder Fasane war ausschliessliches Recht der Herrschaft und diente zur Nahrungsbeschaffung, aber vor allem als privilegierter Zeitvertreib. Die Ausstellung zeigt Stoffe mit Tieren und ihren Jägern, die oft in kleinen Erzählungen münden. 

Adler, Löwe oder Kranich fanden sich häufig in Wappen wieder. Besonders bei Ritterturnieren, wenn die Kämpfer in der Rüstung kaum zu erkennen waren, wurden die heraldischen Tiere symbolische Vertreter der jeweiligen Person.

Verzaubert in eine Spinne
Eher ungewöhnlich kommt das ebenfalls ausgestellte, Weiss in Weiss gehaltene Gewebe daher, das zwischen Blättern und Blüten drei goldene Spinnen zeigt. Zwischen schimmernden Knospen und wehenden Spruchbändern mit einer arabischen Inschrift blitzen die Achtbeiner auf. Durch den symmetrischen Musterentwurf werden die Motive gespiegelt. Sie erinnern an die Weberin Arachne aus der griechischen Mythologie: Sie trat mit Pallas Athene in einen Wettstreit um die Webkunst. Arachne fertigte einen Bildteppich, der lebendige Geschichten erzählte. Aus Neid zerriss Athene daraufhin das Ge­webe und verwandelte Arachne in eine Spinne.

«Ein gern benutztes Motiv sind kläffende Hunde, die eine Burg bewachen, als Symbol der behüteten Minne», erzählt Catherine Depierraz. In der zeitgenössischen Dichtung des Minnegesangs im Hochmittelalter nehme die höfische Liebe einen grossen Raum ein. Die Texte handelten vom Idealentwurf der adeligen Partnerschaft zwischen Mann und Frau.

Im späten 15. Jahrhundert verloren sich die Tierdarstellungen in den Stoffen und machten Ornamenten und Blumenranken Platz. Die grosse Tapisserie als Abschluss der Sonderausstellung zeigt eine Gesellschaft mit einem Paar, das Schach spielt. Fortan sollte die Gesellschaftsordnung der Geschlechter und Stände, die sich in den Gewändern widerspiegelten, durch abstraktere Muster geregelt sein. Die Ausstellung präsentiert sich mit zahlreichen Exponaten als kurzweilige Zeitreise und zeigt die hohe Webkunst des Mittelalters in spannenden Facetten.

Die Ausstellung läuft noch bis zum 13. November. Öffnungszeiten der Sammlung und Sonderausstellung: täglich 14 bis 17.30 Uhr. Öffnungszeiten Villa Abegg täglich nachmittags, Voranmeldung unter Tel. 031 808 12 01 empfohlen. www.abegg-stiftung.ch