Jeder kennt das Problem: Die neue Jeans hat ein Loch, die Lieblingsbluse einen Schranz und die ach so robuste Jacke ist plötzlich am Saum gerissen. Es ist schnell passiert und es ist ärgerlich. Was aber, wenn es reichen würde, ebendiese Kleidungsstücke einfach einmal zu waschen und – Abrakadabra! – die Schäden wären behoben? Dank einer Gruppe von Wissenschaftlern der Penn State und der Drexel University in Pennsylvania, USA, ist das vielleicht bald möglich.

Das Team um Forschungsleiter Melik Demirel hat es mithilfe des Gemeinen Kalmars (Loligo vulgaris) geschafft, sogenannt selbstheilende Textilien herzustellen. Dafür mussten die Forscher, die ihre Arbeit Mitte Juli im Fachjournal «ACS Applied Materials & Interfaces» publiziert haben, dem Tintenfisch aber zunächst die Zähne ziehen. Buchstäblich. Konkret geht es um einen mit scharfen, dreieckigen Zähnchen bestückten Ring, der in jedem Saugnapf eingebettet ist und dem Kalmar dazu dient, gefangene Beutetiere besser festhalten zu können. Dieser Zahnring besteht komplett aus Proteinen und verfügt über einen speziell strukturierten Aufbau, der ihn sehr hart und zäh, gleichzeitig aber auch hochelastisch macht.

Aus den Zahnproteinen des Kalmars fabrizierten die Forscher einen dünnen Film, den sie in einem speziellen Schichtverfahren auf drei unterschiedliche Stoffe auftrugen: Wolle, Baumwolle und Leinen. Die so behandelten Textilien gewannen dadurch die Eigenschaft, Beschädigungen wie Risse und Löcher durch die Zugabe von Wasser in wenigen Sekunden selbst reparieren zu können. Dies funktioniert, weil sich die Proteine im Falle einer Verletzung selbst heilen, indem sie auf molekularer Ebene kaputte Wasserstoffbrücken neu verbinden und so den ursprünglichen Zustand wiederherstellen. Zudem bleibt der Proteinfilm bei normaler Beanspruchung der Textilien sowohl in feuchtem als auch in trockenem Zustand stets mechanisch stabil, sprich: intakt und flexibel.

Ein Video des Prozesses sehen Sie hier:

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Ob die Modeindustrie das gut findet?
Dass die Gewinnung von Zahnringen jeweils den Tod eines Kalmars bedingt, liegt auf der Hand. Um die Bestände muss man sich trotzdem keine Sorgen machen. «Mittlerweile haben wir es geschafft, die Zahnproteine via Biofermentation mit Bakterien und Hefe nachzubauen», sagt Demirel auf Anfrage. Diese künstlich hergestellten Proteine imitieren den Selbstheilungsmechanismus des Kalmars.

Ein weiterer Vorteil von Proteinen als Werkstoff ist, dass sie biologisch abbaubar sind, die Umwelt also viel weniger belasten als zum Beispiel synthetischer Plastik. «Zudem konnten wir kürzlich in Versuchen mit Zellen nachweisen, dass die Zahnproteine biokompatibel sind, also keinen negativen Einfluss auf Lebewesen haben», sagt Demirel.

Dass sich Wissenschaftler bei der Erforschung und Entwicklung selbstheilender Materialien immer mehr an der Natur orientieren, überrascht angesichts der gestiegenen Nachfrage nach ökologisch nachhaltigen Lösungen nicht. So beschäftigte man sich in den letzten rund vierzig Jahren mit Knochen, Schalen von Weichtieren, Schwammnadeln, Skeletten von Stachelhäutern und neuerdings mit Schuppen von Schuppentieren – oder eben Kalmarzähnen.

Auf die Frage, inwiefern die Mode- und Kleiderindustrie überhaupt ein Interesse daran habe, langlebige, unkaputtbare Produkte herzustellen (dann würde ja niemand mehr etwas Neues kaufen müssen), mag Demirel keine abschliessende Antwort geben. Für ihn scheint aber klar: Selbstheilende Textilien sind die Zukunft, weil die Vorteile überwiegen. Insbesondere, wenn es um teure oder multifunktionale Stoffe geht, etwa Kampfanzüge für Soldaten oder Schutzkleidung für Landwirte.

So haben die Forscher um Demirel ihre Textilien nicht nur mit Proteinen, sondern auch mit Enzymen behandelt und deren Aktivität untersucht. Denn bestimmte Enzyme können chemische oder biologische Giftstoffe neutralisieren. «Denken Sie an Menschen, die unter toxischen Bedingungen arbeiten müssen», sagt Demirel. «Schutzkleidung, die man schnell reparieren kann und die eine Barriere gegen Gifte hat, kann Leben retten.»