Diesen Vormittag ist wieder einmal ein Paket vom Grossherzog eingetroffen. Seinen Schenkungen haben wir es zu verdanken, dass die Sammlung des Museums so schön wächst. Nun werde ich als letzte Tat des Abends noch das Paket öffnen und mich bedanken.
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Mit äusserster Vorsicht öffne ich den Deckel und hebe das eingepackte Tier aus der Kiste. Papier für Papier nehme ich die Schutzhülle ab – und sehe sofort, was der Grossherzog mit der Merkwürdigkeit meint: Dem Tier – übrigens ein vortrefflich präpariertes Exemplar – steckt ein hölzerner Pfeil mit eiserner Spitze der Länge nach im Hals. Das ist in der Tat höchst merkwürdig, denn das Tier hatte sich an dieses Zustand offenbargewöhnt und so weitergelebt – mit dem Pfeil im Hals –, als ob nichts gewesen wäre!
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Der Pfeil. Etwas stimmt doch nicht mit diesem Pfeil. Wo schiesst denn heut noch jemand mit Pfeil und Bogen auf einen Storch! Wahrscheinlich Kinder, denke ich, und will gerade weiterschreiben, als ein ungeheurer Gedankt wie ein Blitz durch meinen Kopf fährt. Ich stehe auf und trete näher an das Tier heran. Tatsächlich! Jetzt bin ich hellwach – und froh darüber, dass ich das Paket nicht früher geöffnet habe, womöglich noch im Beisein eines Kollegen. Denn dieser Pfeil, das wird mir schlagartig klar, dieser Pfeil ist eine Sensation! Natürlich kann es auch andere Erklärungen geben. Aber wenn nicht, dann ist das, was hier vor mir auf dem Tisch steht, der Beweis, dass die immer noch gültige Erklärung der Wissenschaft für das alljährliche Verschwinden der Störche falsch ist. Der Beweis, nach dem schon so lange gesucht wurde!

Diese Worte werden im Buch «Ich werde über diese Merkwürdigkeit noch etwas drucken lassen» von Florian Weiss und Lucia Jay von Seldeneck Heinrich Gustav Flörke, dem Professor des Akademischen Museums im deutschen Rostock, in den Mund gelegt. Zugetragen haben soll sich das Ganze im Jahr 1822. Beim Storch, der damals in Rostock landete, handelte es sich um ein auf Schloss Bothmer nahe der norddeutschen Kleinstadt Klütz geschossenes Exemplar. Der Pfeil stammte aus Afrika und lieferte den Beweis dafür, dass die Störche im Winter ebendahin fliegen. Bis dahin dachte man, dass die Tiere in Sümpfen Winterschlaf hielten oder sich in Mäuse verwandelten.      

Dreissig solcher «Merkwürdigkeiten» finden sich in dem Ende 2017 erschienenen Buch. So erfahren wir beispielsweise auch, wie zwei Mönche im Jahr 550 im Auftrag des römischen Kaisers Justinian die ersten Seidenraupen nach Konstantinopel schmuggelten und wie sich die Queen 1971 beim Treffen mit dem japanischen Tenno Hirohito aufgrund dessen Leidenschaft für Quallen und anderes Meeresgetier doch eher zu langweilen schien («Man kann mit diesem Mann über nichts anderes sprechen als über tropische Fische»).

Die Texte stammen von Lucia Jay von Seldeneck, die als Autorin und Pressesprecherin des Berliner Theaters «Heimathafen Neukölln» arbeitet. Dank den detailreichen Zeichnungen von Illustrator Florian Weiss, ebenfalls aus Berlin, und der liebevollen Gestaltung, eignet sich das Buch nicht nur für Tierliebhaber, sondern auch für Freunde der Ästhetik und der schönen Dinge.

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Florian Weiss und Lucia Jay von Seldeneck: Ich werde über diese Merkwürdigkeit noch etwas drucken lassen –
Tiermeldungen aus zwei Jahrtausenden

1. Auflage 2017 
Gebunden, 196 Seiten 
Verlag: Kunstanstifter, ca. 40 Franken 
ISBN: