Die Mittagspause ist vorbei. Bewegung kommt in die Menschenmenge vor dem Landgasthof in Innertkirchen BE. Anderthalb Dutzend Pferde, Esel und Ponys stehen in einer Reihe auf der Wiese vor der Beiz, satt gefressen am saftigen Gras, und warten darauf, weiter südwärts zu marschieren. Ihre Besitzer, die Säumer, setzen sich breitkrempige Hüte auf, schnappen ihre Wanderstöcke und machen sich ans Aufsatteln. Sie legen den Pferden lederne Geschirre an, den Rücken der Tiere beladen sie mit grossen Körben aus Bast, auf einem Gestell seitlich montieren sie zwei runde Holzbehälter, die sogenannten Spalenfässer. Sie sind das wohl wichtigste Requisit auf der Sbrinz-Route, der Säumerwanderung über die Schweizer Alpen.

Was heute ein Freizeiterlebnis ist, war früher ein lukrativer Geschäftszweig. «Die Säumer von anno dazumal sind die Lastwagenfahrer von heute», sagt Werner Grossniklaus, der Präsident des Fördervereins Sbrinz-Route. Sein Verein ist es, der Wanderern und Naturliebhabern heute das Wandeln auf den Spuren unserer Ahnen ermöglicht. Damals waren Pferde, Esel und Maultiere die wichtigsten Transportmittel und die Alpenpässe die schnellste Verbindung zwischen Norden und Süden.

In Italien Käse gegen Wein eingetauscht
«Die Säumer wanderten über Jahrhunderte hinweg hin und her», sagt Grossniklaus. Sie brachten Käse aus der Innerschweiz und Salz aus Süddeutschland nach Italien. «Schon der Papst hatte im 16. Jahrhundert nach ‹Sbrinzo di prima qualità› verlangt», erklärt Grossniklaus. Der Käse wurde laibweise in Spalenfässern verstaut und gen Süden transportiert. Dort wurden die Fässer als Brennholz verwendet, die Rückreise traten die Saumtiere mit Tuch und Wein beladen an.

Nur eins der Säumerpferde hat tatsächlich zwei grosse Käseräder geladen, je vierzig Kilogramm schwer sind sie und links und rechts des Pferderückens in einem Gestell fixiert; die Fässer und Körbe, mit denen die anderen Tiere beladen sind, sind nicht mit Käse gefüllt. «Wir haben darin unser persönliches Gepäck verstaut», verrät die Besitzerin eines der Pferde. Ansonsten sind die 25 Säumer unterwegs wie früher. «Der Weg ist noch der gleiche wie vor ein paar Hundert Jahren», sagt Daniel Flühler. «Das ist halt die Geografie, da können wir nicht ausweichen.» Von Stansstad NW aus geht es über den Jochpass ins Berner Oberland, dann über die Grimsel ins Wallis und schliesslich via Griespass bis nach Domodossola. 

«Juu-hu-hui!» Daniel Flühler stösst einen Jauchzer aus und marschiert los, einen schmalen Waldpfad hinunter. Flühler ist der Wanderführer, er gibt das Tempo vor. Dahinter folgen die Säumer mit ihren Tieren, die sich sicheren Trittes durch den Wald schlängeln. Zuhinterst folgt ein Tross von rund 50 Wanderern, die miterleben wollen, wie Mensch und Tier früher die Alpen bezwangen, bevor die Berge von Tunnels durchlöchert wurden. 

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Glatte Platten und Räuberbanden
Die Einweihung des Gotthardtunnels 1882 war der Todesstoss für die Säumer. Plötzlich gab es eine Eisenbahn, die Güter nicht in einer Woche, sondern in ein paar Stunden nach Italien brachte. Die Säumer waren auf einen Schlag überflüssig. Ähnlich erging es den Trainsoldaten. Immer weniger Rekruten traten diesen Kompanien bei, die mit Pferden Güter transportierten. 

Um die Tradition der Trainsoldaten wieder aufleben zu lassen, kam die Idee auf, die Sbrinz-Route wieder zu aktivieren. Ein erster Versuch in Zusammenarbeit mit dem Militär erwies sich als problematisch. «Mit Militäruniformen ist es nicht so einfach, nach Italien zu marschieren», sagt Grossniklaus. Also wurde der Förderverein gegründet, der eine Zusammenarbeit mit der Trainvereinigung Unterwalden einging. Seither überqueren die Säumer – in Zivil – jedes Jahr im August einmal die Alpen. 

Nach vier Stunden Marsch bleibt der Tross stehen. Guttannen ist in Sichtweite, die Säumer schnappen sich Schweizer, Berner, Luzerner, Walliser Fähnchen und dekorieren ihre Tiere für den Einmarsch ins Dorf. Dort stehen die Einwohner Spalier und jubeln den Ankömmlingen zu. Jedes Jahr führt die Säumerwanderung durch Guttannen, jedes Jahr veranstaltet das Dorf ein Säumerfest mit Hammen, Tanz und Kafi Schnaps. Die müden Beine wirbeln auf einmal wieder flink über die Bühne, müssen sich aber bald wieder ausstrecken, denn am nächsten Morgen wartet die Königsetappe.

7 Uhr in der Früh, ein wenig schläfrig sind die Augen der Wanderer noch, aber sie freuen sich auf den Grimselpass. «Juu-hu-hui» und auf geht’s; die Frühaufsteher unter den Dorfbewohnern winken zum Abschied. Der Aufstieg auf die Grimsel sorgte bei den Säumern seinerzeit für tiefe Sorgenfalten. Der Weg war damals beschwerlich und gefährlich für Mensch und Tier. Schmale Pfade aus lockerem Gestein erfordern noch heute eine grosse Trittsicherheit der Pferde. Noch gefährlicher waren die «Hählen Platten», vom Gletscher glatt geschliffene Felsplatten. Hier fanden regelmässig Pferde den Tod in der Tiefe.

Nicht so heute. Vorsichtig, aber behände setzen die Tiere Huf vor Huf und bimmeln dabei mit den montierten Glöckchen. «Die Schellen trugen die Pferde damals, damit man den Gegenverkehr rechtzeitig hörte», erklärt Wanderführer Flühler. Schliesslich ist der Platz zum Kreuzen knapp. Das Gebimmel ist quasi der Vorläufer des «Tatütata» des Postautos. Es verriet aber nicht nur anderen Säumern die Position, sondern auch Wegelagerern. Und von denen gab es in der Hochphase der Säumerei viele im Berggebiet. «Die hatten leichtes Spiel», sagt Flühler. «Entweder du gabst ihnen deine Ware oder sie stiessen dich den Hang hinunter.»

Tradition trifft auf Moderne
Der Weg führt steil bergauf, mal durch den Wald, mal über kleine Steinbrücken, die schon von den «echten» Säumern überquert wurden. Im Rücken der Wanderer erstreckt sich das Alpenpanorama, vor ihnen ist schon die erste Grimsel-Staumauer in Sichtweite. Ab dort trennen sich die Wege von Pferden und Wanderern. Auf zwei Beinen geht es eng am Berghang dem Ufer des Räterichsbodensees entlang. Die Pferde hingegen müssen mit ihren Säumern auf das gegenüberliegende Seeufer ausweichen. «Auf der anderen Seite würde die Ladung an der Felswand anschlagen», sagt Flühler. 

Dort, wo früher der Säumerpfad auf den Grimselpass lag, ist heute eine stark befahrene Strasse. Also trifft Tradition auf Moderne. Sportwagen und Motorräder brausen auf ihrer Passfahrt an ihren Vor-Vorgängern vorbei. Die Pferde lassen sich nicht aus der Ruhe bringen und trotten in ihrem 1-PS-Tempo die gewunde­ne Serpentinenstrasse empor. Bis – es ist mittlerweile fast zwei Uhr nachmittags – wieder ein «Juu-hu-hui» erschallt. Es ist geschafft! Der Hut von Daniel Flühler taucht unter der Passhöhe auf, gefolgt von seinem weissen Schnurrbart, bald ist der ganze Säumertross hinter ihm zu sehen. Lange haben die Wanderer auf der Grimsel nicht Zeit, sich zu stärken. Ein kurzer Mittagssnack, dann geht es wieder runter, ins Wallis, ans nächste Säumerfest in Obergesteln. Und immer weiter, bis sie am Sonntag in Domodossola empfangen werden und ihren Käse gegen Wein eintauschen können. Sie werden ihn sich verdient haben. 

www.sbrinz-route.ch