Liefe im Kino gerade «‹Tierwelt› – der Film», er sähe vermutlich in etwa aus wie die ersten zwanzig Minuten von Alice Schmids neuem Film. Eine Dokumentation über einen Bauernhof im tiefsten Entlebuch. Ponys trotten über die Weide, Strausse jagen hintereinander her, der Truthahn besteigt seine Gefreite und Bauerntochter Laura sieht dem Vater zu, wie er ihr Kaninchen schlachtet. Die Zwölfjährige ist hart im Nehmen: «Darf ich das Fell behalten?», fragt sie nur. «Das ist so schön kuschelig.»

Laura Larissa Röösli heisst die Protagonistin von «Das Mädchen vom Änziloch». Sie spielt sich selbst, pardon, sie ist sich selbst, und zwar auf genial natürliche Weise. Laura ist nicht das Schätzeli, das ein Casting für den klassischen Heimatfilm ausspucken würde, sie ist das dicke Mädchen vom Land, mit all seinen Sörgeli und Komplexen. Regisseurin Alice Schmid hat die Hauptdarstellerin schon vor sechs Jahren entdeckt, als sie für den Film «Die Kinder vom Napf» eine Schulklasse während eines Jahres begleitete.

Nun also, ein paar Jahre älter, tut Laura auf dem Hof ihrer Eltern, was man in den Entlebucher Sommerferien halt so tut: Sie hilft beim Köhlern, bis ihr Gesicht rabenschwarz ist, sie holpert mit dem Einachser durchs hohe Gras, sie versucht, die Ponys einzufangen und sie schreibt Tagebuch.

Drei Wünsche schreibt sie in ihr Tagebuch und liest sie im Laufe des Films vor: Ihre «Dickheit» loswerden möchte sie, schreibt sie. Jemanden zum Reden haben. Und dann nähme sie noch Wunder, was an der Sage vom Änziloch wirklich dran ist. Die Sage von der Jungfrau, die als Geist dort unten lebt, keinen Kilometer vom Röösli-Hof entfernt. Im Änziloch eben, einem tiefen Talkessel, in den sich nur die allerwenigsten Hiesigen trauen. Denn wer runtergeht, so heisst es, kommt mit geschwollenem Kopf wieder hoch. Wenn überhaupt.

Eintauchen ins Entlebuch
Wunsch zwei zumindest, einen zum Reden zu haben, erfüllt sich für Laura rasch. Sie bekommt Besuch von Thom, einem Buben in ihrem Alter, der auf eine Woche Landdienst ins Entlebuch kommt. Thom packt mit an, vor allem aber löchert er Laura mit Fragen über das Änziloch. Mit Fragen, die Lauras Neugier so sehr wecken, dass schon bald klar ist: Das «Mädchen vom Änziloch», wie schon der Filmtitel verrät, muss nachschauen, was dort unten wirklich ist.

Alice Schmid hat es einmal mehr geschafft, Kinder so echt und authentisch zu porträtieren, wie es in Filmen nur selten gelingt. Thom mit Abstrichen, Laura ohne Einschränkung, lassen den Zuschauer eintauchen in die Entlebucher Natur, aber auch in die Entlebucher Mentalität.

Mehr Mühe mit der Kamera haben da die anderen Dörfler, die zwischendurch immer mal wieder zu Wort kommen. In perfekten Bildausschnitten stehen sie da, drapiert neben dem Traktor oder vor dem Hauseingang und stammeln ein paar ängstlich-unbeholfene Sätze über die Änzilochsage. Das sorgt für Gelächter im Publikum, ist aber, gerade aufgrund der tollen Bildsprache, so unpassend wie Stöckelschuhe auf dem Bauernhof.  Zum Glück, bleibt da dem Zuschauer zu frohlocken, trägt Laura ständig Gummistiefel. Mit denen lässt sich auch das Änziloch auskundschaften und vielleicht sogar ohne geschwollenen Kopf wieder rausfinden.

«Das Mädchen vom Änziloch» läuft ab heute in vielen Deutschschweizer Kinos.

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