Die zwei weissen Pfautauben sitzen auf einer Palmblatt-Rispe. Mit leiser zarter Stimme fordert Marula Eugster das Männchen auf, zu ihr zu kommen. «Komm Wölkli – komm zu mir.» Doch das Tierchen will zuerst noch einige Körner aus der Vertiefung der Blattrispe picken. Mit ruhigen Bewegungen nähert sich die Tänzerin der anderen Taube. «Kommst du zu mir Isidörli?», lockt sie, und das Weibchen klettert auf den hingestreckten Arm. Jetzt weiss auch Wölkli, dass es Zeit für die Probe ist, und lässt sich mühelos auf den Kopf der Tänzerin setzen. Der Kranz mit den Blumen auf Eugsters Kopf lässt die Tauben wie in einem Nest erscheinen. Ganz leise tönt Musik aus den Boxen und die Tänzerin beginnt sich zu bewegen.

«Wings In My Heart» – so heisst das neue Bühnenprojekt des Rigolo Swiss Nouveau Cirque. Marula Eugster ist die jüngste Tochter von Mädir Eugster und Lena Roth, den Gründern des Cirque. Mit der Performance Sanddorn-Balance holten die beiden in der ganzen Welt verschiedenste Auszeichnungen.

Fütterung schafft Vertrauen
Sinnlich bewegt sich Marula zu den leisen Musikklängen. Wölkli und Isidörli scheinen die sanften Bewegungen, die Musik und das Spiel mit dem Tanz zu geniessen. Egal, wie sich die Tänzerin dreht und beugt: Wölkli hält gekonnt die Balance. Das Pfautaubenmännchen hat dabei zum Teil sogar Musse, sein Federkleid zurechtzuzupfen. Isidörli ihrerseits klettert friedlich auf der Tänzerin umher – mal auf dem Arm, dem Rücken entlang hinauf oder auf die Palmenblatt-Rispe, die Mädir Eugster seiner Tochter in die Hand gibt.

Bei den Proben zum neuen Bühnenprojekt scheint das Sonnenlicht an die blassrosa Wand und projektiert mehr durch Zufall einen Flügel an die Wand. Wings In My Heart – Flügel in meinem Herzen. Das Scheinbild unterstreicht die poetische Szene der Künstlerin mit ihren zwei schneeweissen Tauben und verleiht dem ganzen Spiel etwas Harmonisches, Verträumtes, ja gar märchenhaft Mystisches.

«Die Arbeit mit den Tieren war zu Beginn unseres Projekts allerdings alles andere als harmonisch», sagt Lena Roth. Sie kümmert sich hauptsächlich um das Wohlergehen der insgesamt vier edlen Tauben. Über die Fütterung gelang es ihr das Vertrauen allmählich zu gewinnen. «Ich verbrachte zahlreiche Stunden im Taubenschlag, bis sie mir aus der Hand frassen», sagt sie und erzählt, wie die Tauben zu Beginn des Showtrainings dann doch nichts von handzahm wissen wollten. Die Tiere seien im Raum herumgeflogen und hätten es sich schliesslich in der Höhe auf einer Stange gemütlich gemacht. «Wir konnten sie erst bei Dunkelheit herunterholen, denn dann lassen sie sich am einfachsten einfangen», sagt Lena Roth.

Mittlerweile sind zwei der vier Tauben richtig-gehend handzahm. Lena Rothkennt die Vorlieben und Gewohnheiten ihrer Schützlinge genau und nimmt jede so, wie sie ist. «Wölkli war von Beginn an der Ruhigste», sagt sie und beschreibt, wie die Taube mit dem hellgrauen Kranz mit seinem Wesen im ganzen Schwarm Ruhe in den Stall brachte. Louis und Rosalia zeigen sich bis heute nicht als «Zirkus-Tübli». Rosalia bezeichnet Roth als «Stresskopf» – die nicht zahm zu kriegen war. Ebenso Louis. Dafür zeige er sich als fürsorglicher Vater. Sein Weibchen ist Isidörli. Sie hiess eigentlich Isidor. Doch als sie plötzlich Eier legte, wurde aus Isidor die Zirkusprinzessin Isidörli.

Alles Brüten nützt nichts
Isidörli legt immer wieder Eier. «Louis sitzt dann den ganzen Tag auf seinen Eiern und kommt richtiggehend in Stress, wenn er kurz Körner picken geht», sagt Roth. Isidörli brütet jeweils in der Nacht. Allerdings sind die Eier nicht immer befruchtet. So zeigte sich vor einiger Zeit, dass bei dem Taubenpaar alles Brüten nichts nützte. Lena Roth entfernte die Nistschale. «Der Zeitpunkt für eine weitere Brutzeit mit Aufzucht im Zusammenhang mit dem Bühnenprojekt wäre für die Tiere momentan nicht ideal», sagt sie.

Die Musik hört auf und Isidörli fliegt auf den Boden. Wölkli folgt ihr. Neugierig stolzieren die beiden auf dem Fussboden umher. Wobei das Männchen alles versucht, um dem Weibchen zu imponieren. Mit zurückgelegtem Kopf folgt er ihr gurrend. Doch das interessiert die Schönheit nicht im Geringsten. Tauben sind partnertreu. Isidörli weiss, wer im Taubenschlag auf sie wartet.

«Die Tauben sind für uns mittlerweile Familienmitglieder», ist sich die Künstlerfamilie einig. Den Aufwand mit dem Zähmen stellten sich alle drei zu Beginn nicht so aufwendig vor. «In Venedig sind die Strassentauben ja auch beinahe handzahm», sagt Marula Eugster. Daher habe sie gedacht, es sei einfacher. Die Arbeit mit den Tieren verlangte von allen sehr viel Geduld, viel Ruhe und Zeit. Trotzdem würden sie es wieder auf sich nehmen. «Eine Taube passt einfach wundervoll zu unserem Stück», sagt Marula Eugster. Jedes Lebewesen trage seine Bestimmung in sich und könne die Flügel dafür ausbreiten und aufschlagen. Daher dürfen sich ihre Tauben mit ihrem Wesen und der Schönheit selbst präsentieren.

«Eine Taube symbolisiert sehr viel», sagt Roth und weist auf die Friedenstaube und die Hochzeitstaube hin. Sie versinnbildlicht Reinheit, Treue, Fruchtbarkeit, Überleben und Vermittlung. «‹Wings In My Heart› soll für jeden das Eigene widerspiegeln», sagt Mädir Eugster.