Piep-o-lo-a-lu-du-aa-dum. So tönt Franz Hohlers Amsel. Diejenige, die ihn regelmässig zu Hause besucht. Er kennt ihren Refrain längst und weiss ihn tirilierend wiederzugeben, genau wie den der Mönchsgrasmücke und das grobe Krächzen der Krähe, mit der er sich per Zufall angefreundet hat; eigentlich wäre die Nuss auf der Fensterbank nämlich für das Eichhörnchen gedacht gewesen. Aber: «Dr Schneller isch dr Gschwinder», sagte sich Hohler und fand sich damit ab, dass die Fensterbank-Nüsse nun halt Krähenfutter statt Eichhörnchenvorrat sind.

Der Schriftsteller, Dichter und Kabarettist Hohler ist ein grosser Naturbeobachter. Und sein Haus mitten in Zürich-Oerlikon ist ein geeigneter Ort für Naturbeobachtungen. Wer die Jugendstilvilla besuchen will, in der er seit rund vierzig Jahren mit Ehefrau Ursula lebt, findet sich in einem wuchernden Wildgarten wieder, mit Brennnesseln, Gilbweiderich und Holunderbäumen, denen das Wort «Strauch» nicht mehr gerecht wird.

Sinnieren im Säliwald
Drinnen windet sich ein hölzernes Treppenhaus bis ganz nach oben, in Hohlers Arbeitszimmer. Die Wände draussen sind mit Efeu überwachsen, hier drin sind sie ringsum mit Büchern vollgestellt. Und die Papierbeigen auf dem Schreibtisch versperren fast den Blick aus dem Fenster, hinunter in den Wildwuchs.

«Genau hier fängt meine Erzählung ‹Die Rückeroberung› an», sagt Hohler und zeigt zum Fenster raus. Auf der Fernsehantenne des Nachbars – «die gibt es heute nicht mehr» – habe er einen grossen Vogel gesehen. Aus dem Augenwinkel, er war in die Arbeit vertieft. Als er sich dem ungewohnten Anblick widmen wollte, war der Vogel weg. «Ich fragte mich, was wäre, wenn das ein Adler gewesen wäre.» Mit dem Adler kamen in der «Rückeroberung» auch Hirsche in die Stadt, ihnen folgten die Wölfe. Ganz Zürich wurde von Wildtieren überrannt und bald traute sich niemand mehr aus dem Haus. Die Natur hatte sich zurückgeholt, was ihr einst gehört hatte. 

«Man darf nicht meinen, wir könnten der Natur sagen, wo es langgeht», fasst der heute 76-Jährige die Lehre zusammen, nach der er auch privat zu leben scheint. Aufgewachsen in Olten, fand er früh den Draht zur Natur. Die obligatorischen Sonntagsspaziergänge – in der Regel bei Kindern nicht sonderlich beliebt – mochte er gern und im Säliwald setzte er sich schon als Zehnjähriger gerne auf irgendeinen Stein, beobachtete und dachte über die Welt nach. 

Das Wandern und Beobachten ist Hohler bis heute ein grosses Hobby geblieben. Dabei sagt er, suche er beim Wandern gar nicht unbedingt Inspirationen für neue Texte. «Im Gegenteil. Ich gehe Laufen, damit sich der Kopf leert.» Von Gedankenreinigung spricht er und sagt dabei selber, dass das etwas pathetisch tönt. Zu diesem Zweck zieht es Hohler immer wieder zu Fuss raus, nicht zwingend in die Berge, sondern auch mal durch die Stadt. «Ich bin durch alles Gruusige gelaufen», sagt er. Für sein Buch «Spaziergänge» ging er ein Jahr lang jede Woche einmal auf Spaziertour – oft auch durch die Betonwüste. Er sagt aber auch: «Es ist erstaunlich, wie viel Wildnis wir hier in der Gegend haben.» Kürzlich sei er stundenlang durchs Tobel zwischen Schwamendingen und Dübendorf gewandert und habe genau zwei Jogger und einen Radfahrer gesehen. 

Weltuntergang im Fernsehen
Der Lebensraum Wald, in dem er schon als Bub am liebsten sass und sinnierte, hat seine Wirkung auf Hohler bis heute behalten. «Ein Wald ist ein unglaublicher Kontrast zur anderen Welt, zur Welt der Taktfahrpläne und Bildschirme. Die Bäume stehen einfach da und machen nichts, ausser vielleicht etwas wachsen. Und irgendwann fallen sie um.» Das taten sie dieses Jahr auch im Tessin. Birken waren es, die es vor seinem «Älpli» im Maggiatal traf. Hitzestress sei es gewesen. «Sommerbruch nennen das die Förster.» 

Für Hohler ist es einer von vielen Warnrufen, die uns die Natur zukommen lässt. Die er selber schon längst verstanden hat, aber kaum jemand anderes. Das zeigte Hohler kürzlich im Schweizer Fernsehen, in der «Arena», wo er seine Ballade «Der Weltuntergang» vortrug. Sie beginnt mit einem Käfer, der verschwindet. Mit ihm stirbt ein Vogel aus, dann die Fische. Irgendwann schmelzen die Polkappen und das Ganze endet – erraten – mit dem Weltuntergang. Der habe nämlich längst schon begonnen. Es war derselbe Text, den er schon 1973 einmal im Fernsehen vortrug. Damals drohte Weltuntergang weniger durch Klimawandel oder Insektensterben, sondern vielmehr von Gösgen oder Leibstadt aus. Hohler war eine der führenden Stimmen gegen den Bau von Atomkraftwerken.

Franz Hohler mit einer gekürzten Version seines «Weltuntergangs» am 12.10.2018 in der «Arena» – die ganze Version finden Sie ganz unten auf der Seite (Video: SRF):

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«Als Autor habe ich Freude, dass etwas, das ich damals aufgegriffen habe, sich als so nachhaltig erweist», sagt der Dichter über seinen Text, «aber als Bürger und Weltteilnehmer wärs mir wohler, wäre es nicht so.» Dabei ist das Weltuntergangs-Szenario aktueller denn je. «Damals habe ich noch gar nicht an ein Insektensterben gedacht», erinnert sich Hohler. «Ich habe einfach eine ganz kleine Ursache gesucht, um diese Kette auszulösen. Einen Käfer. Und – siehe da – es ist realistischer, als ich dachte.»

Sprechende Flöhe im Theater
Gegen das Insektensterben setzt sich Hohler aktuell zusammen mit Pro Natura ein. Aus­serdem unterstützt er die Gletscherinitiative. Und für das Stadttheater Bern hat er gerade erst ein Wintermärchen für Kinder geschrieben, das ab November aufgeführt wird. Hauptdarsteller darin: Gletscherflöhe in den Schweizer Bergen, denen in Zeiten der Klimaerwärmung der Lebensraum auszugehen droht. Die sprechenden Flöhe stehen dabei, wie es sich für ein Märchen gehört, sinnbildlich für uns Menschen. Denn der Vater zweier erwachsener Söhne ist überzeugt: «Die ganze Klimaerwärmung, die seit Jahren stattfindet und sich jetzt intensiviert, ist für die Natur weniger bedrohlich als für uns Menschen.» Denn: «Die Natur findet Wege, sich anzupassen.» 

Beim Menschen ist Hohler etwas weniger zuversichtlich. «Wenn ich eine Wette eingehen müsste», schrieb er einst, «was auf unserer Erde länger leben wird, Schallschutzmauern oder Schöllkraut, Autobahnen oder Asseln, ich wüsste sofort, wer meine Favoriten sind.» Geändert habe sich daran nichts. Schöllkraut wachse bei ihm im Garten, sagt er. «Das ist eine Pionierpflanze, die mit ganz wenig leben kann.» Die Asseln habe er jüngst im Kompost gesehen. Und überhaupt: «Ich finde Asseln, wenn ich einen Stein anhebe. Die finden ihre Schlupflöcher überall im Boden.» Natürlich könne man mit Pestizid auch Asseln den Garaus machen. Aber, sagt Franz Hohler, «ich habe das Gefühl, die schaffen es sogar, den Weltuntergang zu überleben».

«Der Weltuntergang», ungekürzt: Franz Hohler 2011 an der Hochschule für Technik in Windisch AG (Video: Jürg Nänni):

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