Ein Gewirr von Antriebsriemen zieht sich an der Decke der Otti-Mühle in Oberwil am Rande des Berner Seelands entlang. Sie laufen über Riemenscheiben unterschiedlicher Grösse. Ein ausgeklügeltes System, denn der Durchmesser der Riemenscheiben bestimmt, mit welcher Geschwindigkeit sich die Maschinen drehen. Angetrieben wird dies alles allein vom oberschlächtigen Wasserrad, bei dem das Wasser von oben über das Rad fliesst. Unermüdlich dreht es sich an der Aussenseite des Hauses und leistet mit seinen fünfeinhalb Metern Durchmesser etwa fünf PS, wie Müller Edi Otti sagt. Und das ziemlich gleichmässig, denn der Mülibach, der im ­Bucheggberg entspringt und bei Rüti in die Aare mündet, ist bekannt dafür, fast immer genügend Wasser zu führen.

Einst trieb der Mülibach elf Wasserräder an; allein im 800-Seelen-Dorf Oberwil drehten sich in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunders noch die Räder dreier Getreidemühlen, einer Sägerei und einer Ölmühle dank seiner Kraft. Wo heute die schmucke Kirche auf einem Hügel thront, stand schon im 8. Jahrhundert eine Holzkirche. Doch Edi Ottis Vater Ulrich ist überzeugt: «Bevor in Oberwil eine Kirche stand, gab es zweifellos schon eine Mühle.» Übrig geblieben ist allein die mittelalterliche Grabenöli Lüterswil zwei Kilometer bachaufwärts, die von Mühlefreunden in Schuss gehalten und regelmässig in Betrieb genommen wird. Und die Otti-­Mühle.

Hartnäckige «Cheibe»
Es sei die einzige Wassermühle der Schweiz, die noch gewerblich betrieben werde, sagt Otti senior, der in seinem 83-jährigen Leben Wohl und Wehe der Oberwiler Mühle am eigenen Leib erlebt und bis vor zehn Jahren noch selber gemahlen hat. Er kramt aus seinem Wohnzimmerschrank die in alter Handschrift geschriebene Kaufurkunde hervor. Seit 1791 gehört die «untere Mühle im Dorf Oberweil … samt Behausung, Stallung, Stok, Kräuter- und Baumgarten» der Familie Otti. Gar von 1611 stammt das Wassernutzungsrecht, das auch heute noch gültig ist.

Das grosse Mühlensterben setzte nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Grossmühlen entstanden, die kleinen stellten meist auf Elektroantrieb um – wenn sie nicht gleich ganz aufgaben. Ulrich Otti hingegen investierte in den 1970er-Jahren einen Jahresumsatz in neue Zahnräder. 1985 wurde die gesetzliche Mahlpflicht aufgehoben; bis dahin waren Bauern verpflichtet, jährlich 100 Kilogramm Korn zum Eigenbedarf mahlen zu lassen. «400 Mühlen mussten von einem Tag auf den anderen schliessen. Aber wir waren hartnäckige ‹Cheibe›», sagt Otti, dankbar, dass einer seiner vier Söhne die alte Mühle weiterbetreibt.

Das Wasser des Mülibachs fliesst jahrein, jahraus und treibt gratis das Wasserrad an. Gratis? Ulrich Otti schüttelt den Kopf. «Die Wasserenergie ist kein Geschäft.» Denn der Bach will unterhalten sein, und der Unterhalt der alten Technik ist auch nicht gratis. Weil die Otti-Mühle biologisch arbeitet, sind Insektizide gegen Kornlagerschädlinge ausgeschlossen; das macht den Unterhalt aufwendiger. Jeden Sommer steht die Mühle während eines Monats ganz still. Dann wird die Anlage auseinandergenommen, gereinigt und wo nötig repariert. Und alle paar Jahre wird der grosse, 600 Kilo schwere Mahlstein abgehoben und sein Profil nachgemeisselt.

Kein Vergleich mit einer modernen Mühle. Was die Otti-Mühle in einem Jahr produziert, schafft eine Grossmühle in weniger als einem Tag. Das hat seinen Preis. Das Kilo Mehl kostet bei Otti rund doppelt so viel wie beim Grossverteiler. «Unser Mehl muss also um so viel besser sein», sagt er. Sein Korn stammt vom eigenen Hof oder von Biobetrieben der Umgebung. Einiges kauft er von Bergbauern, die auf 1200 Metern über Meer alte Sorten pflegen. Anders als in Grossmühlen, wo das Mehl standardisiert wird, kann Otti-Mehl leicht varieren. «Im verregneten letzten Jahr etwa war das Mehl nicht ganz so gut wie sonst», räumt Otti ein. Dafür können Bauern, die ihr Korn zum Mahlen bringen, sicher sein, ihr eigenes Mehl nach Hause zu tragen.

Entsprechend überblickbar ist denn auch die Produktion. An der bachseitigen Aussenwand befindet sich die Welle, welche die Wasserkraft ins Haus holt. Sechs grosse, guss­eiserne Zahnräder bilden das Getriebe, welches das gemächliche Tempo des Wasserrades so umsetzt, dass es optimal nutzbar ist. Jedes Zweite der Zahnräder ist mit Zähnen aus Weissbuche versehen. Sollte einmal ein Zahn brechen, ist es der hölzerne – und dieser ist einfach und günstig zu ersetzen.

In einem ersten Arbeitsgang, dem sogenannten Röllgang, wird die Spreu vom Weizen getrennt. Zur Herstellung von Vollkornmehl schüttet Edi Otti das Korn in einen Trichter über dem steinernen Mahlwerk. Der untere Stein ist fix, während der obere über ein Getriebe vom Wasserrad angetrieben wird. Das Korn rieselt zwischen die Mühlsteine, wird vermahlen und fällt als Mehl in einen Sack.

Ein Strick statt Elektronik
Einzig zur Herstellung von Weiss- und Halbweissmehl kommt eine elektrisch angetriebene Maschine zum Einsatz. «Dafür würde die Kraft des Wasserrades nur knapp ausreichen», erklärt der Müller Edi Otti. Der Walzenstuhl ist die neueste Maschine – sie stammt aus dem Jahr 1935. Sie verfügt über vier Mahlwalzen, über die das Korn erst grob, und dann immer feiner gemahlen wird. Nach jedem Mahlgang wird es über einen Becher­elevator, einer Art Paternoster, wieder ins obere Stockwerk transportiert. Dort wird es gesiebt und gelangt anschliessend in die nächstfeinere Walze, bis es schliesslich in den 50-Kilo-Mehlsack fällt.

Im Dachstock stehen einige Dutzend Kornsäcke, die darauf warten, verarbeitet zu werden. Bewacht werden sie von einer schwarz-weissen Katze. Sie sorgt dafür, dass die Mäuse, die sich an den Körnern gerne satt fressen, nicht überhandnehmen. Die Nachtschicht übernehmen ein paar Marder, die ebenfalls gegen einen Mäusebraten nichts einzuwenden haben.

Ebenfalls im Dachstock steht eine mannshohe Einrichtung mit Riemen, Rollen und Hebeln. Es ist der Antrieb des Sacklifts, denn schon zu früheren Zeiten mochten die Müller nicht ständig schwere Säcke die steilen Treppen auf und ab tragen. Statt mit viel Elektronik wird der Lift über einen im Schacht hängenden Strick gesteuert. Wird er gezogen, wird ein Antriebsriemen gegen eine Rolle gedrückt, was den Lift bewegt.

Bei allem Enthusiasmus – von der Mühle allein könnten Ulrich Otti und seine Söhne nicht leben. Daniel Otti, der andere Sohn, betreibt den zugehörigen Bio-Bauernhof. Dazu bieten sie Kutschenfahrten und Events an. Die Betriebszweige profitieren voneinander. Mit der Kutschenfahrt lässt sich eine Mühlenbesichtigung verbinden, und wer schon mal dort ist, kauft vielleicht nicht nur Mehl, sondern auch einen Käse. Diversifizieren heisst ein Zauberwort, «Oberwilness» ein anderes. Wer bei Otti kauft, will sicher sein, dass er ein Biomehl aus der Region erhält. Nur so dreht sich das Wasserrad auch weiterhin.

www.otti-bioland.ch

Schweizer Mühlentag
Am Samstag, 16. Mai, findet zum 15. Mal der Schweizer Mühlentag statt. Mehr als 100 Mühlen in der ganzen Schweiz (darunter auch die Otti-Mühle in Oberwil BE) öffnen dabei ihre Türen. Zu besichtigen sind nicht nur Getreidemühlen, sondern auch Walken, Sägereien, Ölmühlen, Reiben und Stampfen. Wo möglich, werden die alten Maschinen in Betrieb genommen und vorgeführt. An vielen Orten ist der Mühlentag mit einer Festwirtschaft und weiteren Attraktionen verbunden. Eine Anmeldung ist nicht nötig.

Weitere Informationen zum Mühletag