Der Himmel über Zürich hat sich dunkelrot gefärbt. Die Frühlingssonne spendet ihr letztes Licht, bevor sie unter dem Horizont verschwindet. In den Quartieren gehen die Lichter an, die Skyline erwacht zum Leben. «Ein schöner Anblick», sagt Sandra Walser, die in der Stadt wohnt und das Schauspiel durch das Fenster eines Cafés beobachtet. Doch, der grossstädtischen Umgebung könne sie durchaus etwas abgewinnen, ergänzt sie. Auch wenn sie damit vor allem Begriffe assoziiert wie Arbeit, Hektik und Menschenmengen. Eine Welt, in der sich die 42-Jährige während acht Monaten im Jahr bewegt, in denen sie freischaffend als Historikerin und Kulturmanagerin arbeitet.

Fels in der stürmischen Brandung
Wenn sie indes die Augen schliesst, wird die andere Welt lebendig, in die sie im Juni wieder eintauchen wird: in Form von Bildern schier unendlicher Eislandschaften, der Gischt des aufgewühlten Polarmeers, Pinguinen und Eisbären. Wie jedes Jahr wird Walser auch diesmal erklären müssen, was sie in diesen unwirtlichen Regionen der Erde zu suchen hat. «Wenn ich mich jeweils für rund zwei Monate im Sommer in die Arktis und im Winter in die Antarktis aufmache, heisst es im Freundeskreis: ‹Aha, Sandra fährt mal wieder in die Ferien.›» 

Wer allerdings ihren Erzählungen, Radiointerviews und Vorträgen lauscht, merkt schnell, dass der vermeintliche Urlaub mit anstrengender Arbeit verbunden ist. Denn Walser ist selten alleine unterwegs. Als Reiseleiterin kümmert sie sich um Touristen, welche die Schönheit und die Geheimnisse der Polarregionen erkunden wollen. Privatsphäre? Fehlanzeige! «Auf dem Schiff teilst du dir die Kabine mit anderen. Und sobald du aus der Koje trittst, stehst du ganz im Dienst der Gäste.»

Manchmal ist Walser nur mit einer Handvoll Leuten unterwegs, auf einem winzigen Schiff. Wenn sie dann in einen schweren Sturm geraten, was in den Weiten der Polarmeere immer wieder vorkommt, muss sie Zuversicht spenden. Auch wenn es ihr selber speiübel ist. «Ferien sehen definitiv anders aus», sagt sie lachend. Deshalb mag sie auch nicht länger als drei bis vier Monate im Jahr unterwegs sein. Doch missen will sie die Touren nicht, zu denen sie sich von Reedereien oder Reisebüros verpflichten lässt und für die sie sich ursprünglich als Fotografin anstellen liess, um die Ausflüge zu dokumentieren. Bildungsreisen seien das, präzisiert sie, je nach Klientel mehr oder weniger wissenschaftlich gefärbt, mit Vorträgen und Diskussionen. Immer öfter gibt sie ihr Wissen zudem an angehende Guides weiter.

Ein berührendes Reisetagebuch
Einen Teil ihrer Sachkenntnisse hat sich Walser durch ihr Geschichtsstudium angeeignet. Doch Bücher und Filme können die Wirklichkeit der Polarwelt nur ansatzweise beschreiben. «Dafür vermögen sie Sehnsüchte zu wecken», sagt sie. Wie das Bilderbuch, das sie einst im Kindergarten durchblätterte, immer und immer wieder. «Die Zeichnungen bunter nordischer Häuser, von Eisbergen, Rentieren und Nordlichtern zogen mich schon damals in den Bann.»

Es sollte allerdings noch lange dauern, bis sie all dies erstmals in natura sehen würde. Walser erinnert sich: «Als Motivation, um meine Lizarbeit zu beenden, gönnte ich mir 2004 eine einmonatige Reise nach Grönland. Dort lernte ich Klima und Landschaft kennen – und die Inuit.» Obwohl sie sich nur mit Händen und Füssen verständigen konnte, gewann sie das Vertrauen der Einheimischen. «Vermutlich, weil sie merkten, dass diese ‹komische Europäerin› nicht gleich am nächsten Tag wieder abreiste, sondern sich wirklich für ihr Leben interessiert.» 

Zurück in der Schweiz begann Walser zu forschen, setzte sich mit Natur, Tourismus, dem Klima und der Geschichte der Polarregionen auseinander. In einem Archiv stiess sie auf ein Reisetagebuch des Schweizer Künstlers Hans Beat Wieland. Als einer der Ersten war dieser vor über 120 Jahren als Polartourist an Bord eines Dampfschiffes, das von Hamburg das Ende der damals bekannten Welt ansteuerte: Spitzbergen. Wielands Schilderungen berührten sie zutiefst. «Vor allem Art und Weise, wie er das Aufkommen des Polartourismus beschreibt – ergreifend! Ich habe in ihm einen Seelenverwandten gefunden.» 

Walser beschloss, das Werk des Schweizer Landschaftsmalers zu würdigen und berief sich auf eine weitere Leidenschaft: das ­Schreiben. Im letzten Oktober erschien ihr Buch «Auf Nordlandfahrt», das auf Wielands Erlebnissen und Bildern basiert. Im Werk setzt sie dessen Berichte in den Kontext der Geschichte des Polartourismus. Dieser ist seit Wielands Zeit stetig gewachsen und führt mittlerweile immer mehr Menschen in die entlegensten Gebiete der Erde – und von der Öffentlichkeit mitunter kritisch beäugt. Dass sie als Reiseleiterin zu diesem Boom beiträgt, ist Walser durchaus bewusst. «Der Tourismus brachte schon immer Veränderungen mit sich, egal wo», stellt sie lapidar fest. Doch es sei eben ein menschliches Bedürfnis, zu reisen. «Für dieses Dilemma möchte ich meine Gäste sensibilisieren. Auch halten wir ein strenges Regelwerk ein, um uns möglichst nachhaltig durch die fragilen Gebiete zu bewegen.»

Plastik sorgt für ratlose Gesichter
Bei Landgängen beleuchtet sie nicht nur die Geschichte der jeweiligen Gebiete, sondern führt den Besuchenden auch die Auswirkungen des Klimawandels vor Augen. Oder lässt sie gleich anpacken: Etwa an einer verlassenen Küste hoch oben im Norden, die mit Plastik übersät ist – Abfall, den der Golfstrom angeschwemmt hat. Regelmässig blicke sie dann in ratlose, schockierte Gesichter. «Ich verteile jeweils Säcke mit der Aufforderung, man solle so viel Müll mitnehmen wie möglich», sagt Walser. Ein kleiner Schritt für die Natur, doch mitunter ein erster fürs Aufkeimen eines Umweltbewusstseins. 

Zurzeit erschliesst die Historikerin noch den Nachlass ihres Seelenverwandten, Hans Beat Wieland. Doch ihre nächste Arktis-Reise im Juni rückt näher. Die Zeit bis dahin nützt sie, um Kontakte zu pflegen: «Wenn man sich keine Mühe gibt, fallen angesichts der langen Abwesenheiten Freundschaften auseinander», weiss sie. Doch auch in der weiten Ferne hat sie Freunde gefunden, die sie jeweils auf ihren Reisen im Sommer und Winter trifft: andere Guides und die Crew auf den Schiffen, auf denen sie sich verdingt – und deren Respekt sie sich zuerst erkämpfen musste. «Es ist eine Tatsache, dass du als Frau härter arbeiten musst als deine männlichen Kollegen», sagt Walser. Die Polarwelt sei eben rau. In vielerlei Hinsicht. 

Literaturtipp 
Sandra Walser: «Auf Nordlandfahrt», Verlag: NZZ Libro, ISBN: 978-3-03810-367-7, ca. Fr. 40.–