Im Untergeschoss des Einfamilienhauses im thurgauischen Gachnang hat sich Werner Gunterswiler sein Reich eingerichtet. Für seine Kunst braucht er keine ausgefallene Einrichtung oder teures Material. Ein Tisch, gutes Licht, Papier und ein paar kleine Scherchen, mit denen man sich normalerweise an den Barthaaren oder den Zehennägeln herumschnipselt, das ist alles.

Das Werk in Arbeit liegt vor Gunterswiler auf dem Tisch. Es ist kein Scherenschnittsujet, wie man es erwartet. Kein Alpaufzug mit Trachten, Kühen, Tannen und Hütten. Auch kein anderes, filigranes Motiv aus dem heilen, alpinen Alltagsleben. Es ist: «Der BH meiner Frau», sagt er und hält das spitzenbesetzte Original in die Höhe. Dem verlegenen Lächeln der Schreibenden folgt die Erkenntnis: Werner Gunterswiler ist einer, der sich nicht in die traditionelle Scherenschnittkategorie einreihen lässt. Er gehört zu den wenigen Scherenschnittkünstlern in der Schweiz, die mit Schere und Papier eigene Wege gehen, fernab von Alpaufzügen. Einer, der auch nach mehr als 30 Jahren Schnittkunst mit seinen Werken noch zu überraschen mag.

In berühmter Gesellschaft
Trotzdem war es einer jener traditionellen Scherenschnittkünstler, der bei ihm den Funken zündete. «1978 habe ich in einem Zeitungsartikel vom Westschweizer David Regez und seinen Scherenschnitten gelesen. Ich war sofort fasziniert und wollte ausprobieren, ob ich das auch kann», erinnert sich Gunterswiler. Er konnte, und zwar so gut, dass dem ersten Versuch schnell weitere folgten. Aus Interesse wurde Leidenschaft, eine, die bis heute nichts von ihrem Feuer verloren hat. Mit enormer Schaffenskraft und unerschöpflichem Ideenreichtum ist er seither am Werk. Zwei bis drei Stunden widmet er täglich dem Papierschnitt und das neben einem Vollzeitjob als Sekundarlehrer im nahen Frauenfeld und seinen Verpflichtungen als Familienvater. 

Schon Wolfgang von Goethe konnte sich der Faszination nicht entziehen, die das geschnittene Papier ausübt. Der Dichter war ein grosser Freund der damals in Mode gekommenen Silhouettenporträts. Er fertigte sie nicht nur selbst an, sondern besass auch eine grosse Sammlung. Gelehrte der damaligen Zeit setzten solche Schattenrisse für wissenschaftliche Studien der menschlichen Charaktere ein. Und schliesslich gehörte im 19. Jahrhundert der Scherenschnitt genauso wie das Klavierspielen und das Malen zur Ausbildung der «höheren Töchter».

Ein Exot in der traditionellen Welt
Über verschiedene Pfade fand die Papierkunst ihren Weg von den Salons der Bürgerschicht in die Stuben der Arbeiterklasse. Johann Jakob Hauswirth (1809 – 1871) aus dem Pays d’Enhaut im Kanton Waadt gilt als Vater des Schweizer Scherenschnitts. Er schnitt als Erster Alpaufzüge und schilderte den alpinen Alltag mit den gleichen Motiven, wie volkstümliche Maler, Stickerinnen und Kerbschneider. Seine filigranen Kunstwerke wurden von Lebensbäumen, Herzen, Blumensträussen und geometrischen Ornamenten belebt. 

Der Begriff Scherenschnitt sei auch heute noch mit Tradition und heiler Welt belegt und provoziere bei vielen Leuten ein skeptisches oder mitleidiges Lächeln, heisst es auf der Homepage des Schweizerischen Vereins Freunde des Scherenschnitts in der Schweiz. Es gebe jedoch nicht den einen Scherenschnitt. Die Vielfalt reiche von Alpaufzügen bis zu Genrebildern, von Jugendstilanlehnungen bis zur Karikatur, von der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung bis zur Abstraktion. Der 1986 gegründete Verein zählt 500 Mitglieder und hat sich zur Aufgabe gestellt den Schweizer Scherenschnitt aktiv zu fördern, unabhängig davon, ob die Künstler sich traditionellen oder eher modernen Motiven widmen. 

Werner Gunterswiler weiss, dass, bei aller Vielfalt, der Grossteil der Scherenschnitt-Künstler heute vor allem traditionelle Scherenschnitte anfertigt. Vor diesem Hintergrund sei er eher als Exot in der «Szene» zu betrachten. «Das Hintergründige liegt mir näher als die ‹heile Welt› der traditionellen Scherenschnitte», sagt er. Und das glaubt man ihm gerne, wenn man seine Werke betrachtet. Seine Szenen zeigen dem Betrachter die menschliche Natur ungeschönt, oft mit einem Augenzwinkern und immer mit einer Geschichte verbunden, die zum Nachdenken anregt. Die Schafherde, die dem Wolf als Hirten folgsam hinterhertrottet. Die Bar mit den verlorenen Seelen. Die Lebensreise von der Wiege bis zur Bahre und darüber hinaus. Die unscheinbare Fliege, übergross und messerscharf in Schwarz und Weiss in Szene gesetzt. 

«Es interessiert mich nicht, was andere über meine Werke denken», sagt Gunterswiler. «Ich mache einfach das, was mir gefällt und mich fasziniert.» Seine Arbeiten sind in Phasen gegliedert, in denen manchmal der Mensch im Vordergrund steht, dann wieder sind es Tiere oder Lebensbäume. Im Moment arbeitet er an einer Serie mit Alltagsgegenständen wie dem ramponierten Turnschuh seiner Tochter oder eben dem Spitzen-BH seiner Frau. Es gibt Bilder, die sich nicht für jede Ausstellung eignen. Ganz einfach weil sie zu schräg, zu bissig oder zu «böse» sind. Allerdings habe er schon die Erfahrung gemacht, dass gerade diese Motive ihre Liebhaber finden. 

Nur selten geht etwas daneben
Gunterswiler ist ein Ideensammler. Sein ständiger Begleiter ist ein Skizzenbuch. In diesem wird alles gesammelt, was irgendwann einmal zu einem Motiv werden könnte. Oft sind es unscheinbare Dinge, die ihm im Alltag oder in den Ferien begegnen und lange brauchen, bis sie sich zu etwas Umsetzbarem verfestigen. «Ich trage meine Ideen manchmal jahrelang mit mir herum. Aber erst wenn ich sicher bin, dass das Motiv ‹verhebt›, mache ich mich an die Arbeit.» Dann spiele Zeit keine Rolle mehr. 150 oder 200 Stunden für ein grösseres Motiv sind normal. Nach drei Jahrzehnten beherrscht Gunterswiler sein Handwerk so virtuos, dass er seine Idee zu hundert Prozent umsetzen kann. «Was ich geplant habe, wird zum Resultat.» Selten gehe etwas daneben und wenn, dann seien es nur Kleinigkeiten, nie das ganze Bild. 

Der erste Schritt ist das Zeichnen des Motivs. Wenn es den Wünschen entspricht, wird es auf das Scherenschnittpapier übertragen. Weil dieses zwar stabil, aber sehr dünn ist, klebt Gunterswiler zwei Bögen mit der schwarzen Seite nach innen an den Rändern zusammen. Dann wird das Motiv mit Bleistift auf die weisse Seite übertragen. Minutiös werden alle Strukturen, Licht und Schatten vor dem ersten Schnitt geplant. Die kleinen Hautscheren sind so zugeschliffen, dass selbst winzigste Schnitte möglich sind. Der Scherenschnitt verlange zwar Konzentration, habe aber auch etwas Meditatives, Entspannendes, findet er. Die Hände sind beschäftigt und der Kopf ist frei. «Am liebsten lege ich mir beim Arbeiten englische Hörbücher in den CD-Player. Je länger die Geschichte, desto besser.»

Die Scherenschnitte von Werner Gunterswiler sind immer schwarz auf weiss. Doch seine Technik suggeriert dem Auge Schattierungen, Zwischentöne und 3-D-Effekte. Zweifellos wird auch sein aktuelles Projekt alle diese Attribute besitzen. Das zarte Wäschestück auf dem Werktisch nimmt erste Formen an. Noch 100 Stunden oder einige mehr versunken in den Papierschnitt, dann ist alles perfekt. Die Zeit arbeitet immer für das Resultat.