Prachtvoll herausgeputzt, wie aus dem Bilderbuch, stehen die stolzen Karussellpferde in der Sammlung von Andrea Weile. Das vor ein paar Tagen neu dazugekommene sieht allerdings etwas mitgenommen aus. Die Farbe hat gelitten, Risse ziehen sich durch das Holz. Doch daraus wird in ein paar Wochen wieder ein strahlend schönes Pferd – dank der geduldigen Feinarbeit von Andrea Weile. Beim Besuch des Journalisten ist sie daran, Farbreste zu entfernen. Mit Heissluftgebläse, Bürste und einer scharfen Klinge trägt sie sorgfältig Schicht um Schicht ab. Sie will wissen, wie die Originalbemalung war, und dann das Rössli restaurieren, damit es mehr als hundert Jahre nach seiner Herstellung wieder aussieht wie neu.

Noch schlechter sieht ein Karussell-Elefant aus, der arg verwittert ist und jetzt auf eine Erneuerung wartet. Andrea Weile wird verschiedene Teile mit neuem Holz ergänzen müssen. Bei der fast ganz verschwundenen Bemalung hat sie Glück. «Ich kenne einen gleichen Elefanten und weiss deshalb, was für Bilder auf dem Holz waren, so kann ich das rekonstruieren», sagt sie.

Am liebsten reiten Kinder auf Schimmeln 
Die 59-Jährige kennt sich aus in der Welt der Karusselltiere. Von den meisten kann sie auf Anhieb sagen, welcher Hersteller sie gebaut hatte. Es gab zwischen etwa 1870 und 1930 verschiedene Manufakturen, in denen die Tiere von Hand hergestellt wurden. Der jeweilige Firmenchef gab seinen Schnitzern genau vor, wie die Pferde auszusehen hatten. So gleicht ein Karussellpferd von Friedrich Heyn nicht denjenigen von Karl Müller, Josef Hübner oder Hermann Thümel – jedenfalls nicht in den Augen einer Fachfrau wie Andrea Weile. In Deutschland, Frankreich, England oder den USA hatte man eigene Vorstellungen von einem Karussell, jedes Land hatte seinen Stil.

Für Weile genügt ein Blick auf den Kopf eines Pferdchens, an dessen Stellung und Ausdruck kann sie erkennen, aus welchem Stall es stammt. Das ist wichtig, denn nach der Restaurierung soll es wieder so aussehen wie damals. Von Friedrich Heyn, einem der grössten Fabrikanten, hat sie einen Originalkatalog zur Hand. Darin sind die einzelnen Typen genau beschrieben, bis hin zum Luxus­modell «Dresdner Gala-Parade-Spiegelpferd» von «noch nie übertroffener Schönheit», wie es heisst. Die Muskulatur sei so täuschend nachgeahmt, dass sie «mit den edelsten lebenden Rassepferden wetteifern». Auch Löwen, Giraffen, Kamele, Schwäne und sogar Fische und Hummer werden in dem Katalog angeboten, zudem Elefanten mit Platz für bis zu zehn Personen, Kutschen und venezianische Gondeln.

Fallen gelassen und in Säure gebadet
Schweine, Ziegenböcke oder Esel gelten bei den Sammlern als Raritäten, viel verbreiteter waren stets die Pferde. «Und zwar am liebsten weisse», sagt Weile. Ein stolzer Schimmel, der einem Lipizzaner nachempfunden scheint, ist sozusagen das Musterbeispiel des Karussellpferds. Braune und schwarze Pferde waren bei den kleinen Reiterinnen und Reitern weniger beliebt. Dass sie meistens weisse Tiere restauriert, stellt Andrea Weile vor ein spezielles Problem: «Die Karussellschimmel müssen einen Schimmelschwanz haben, die sind schwer zu finden.» Der Schweif stammt nämlich immer von einem echten Vorbild, wird speziell gegerbt und dann so gut eingefügt, dass er auch Kinderhänden standhält.

Andrea Weile hat das Handwerk in einem Spezialkurs in den USA erlernt. Ihr Gesellenstück der Ausbildung war ein komplettes Karussellpferd in amerikanischem Stil. Mit dem Fachwissen kann sie heute jedes Pferdchen perfekt restaurieren, selbst wenn es während Jahrzehnten vernachlässigt worden war. Oder wenn es ein unaufmerksamer Schaustellergehilfe einmal fallen liess. «Karussellpferde können grosse Lasten aushalten, auch Erwachsene dürfen ohne Weiteres aufsteigen», erzählt sie. «Was sie aber nicht ertragen sind Stürze.» Die Holztiere sind nach dem immer gleichen Baumuster aus Einzelteilen zusammengesetzt, bei einem Sturz entstehen typische Risse. Die müssen bei der Restaurierung geflickt werden.

Für Weile war das Karussellpferd – natürlich ein schneeweisses – ein Kindertraum seit sie zwei Jahre alt war. Dass ihr Lieblingskarussell eines Tages nicht mehr am Herbstmarkt war, konnte sie nicht verstehen. Viele Jahre später fand sie die Rösslirytschuel übrigens wieder: Sie gehört heute der Stadt Zürich, wird von den Handwerkern der Feuerwehr gepflegt und dreht sich jeden Herbst auf der Gemüsebrücke mitten in der Stadt.

Eigentlich wäre Weile gerne Lokomotivführerin geworden, doch zu jener Zeit wollte die SBB keine Frauen in der Lok. Sie besuchte die Kunstgewerbeschule, ging als Grafikerin zur Swissair, entdeckte das Fliegen und brachte am Ende angehenden Piloten als Fluglehrerin die Grundsätze der Fliegerei in Theorie und Praxis bei. Heute widmet sich Weile ganz den Karussellpferdchen. Sie sammelt sie, kauft und verkauft auch welche, vor allem aber res­tauriert sie und setzt dabei ihre künstlerischen und handwerklichen Fähigkeiten ein. Auch in den Augen des Laien hoffnungslose Fälle haben bei ihr eine Chance, etwa das Pferdchen, das ein ahnungsloser Vorbesitzer zwecks Entfernung des Anstrichs in ein Säurebad steckte. «Das Schlimmste, was einem Karussellpferd angetan werden kann.»

Aufschwung für das Karussell? 
Viel zu tun gibt ein Karussell, für dessen regelmässigen Unterhalt Andrea Weile verantwortlich ist. Es gehört der Genossenschaft Rössliriiti für Alli, mit der ein paar Gemeinden aus dem Zürcher Weinland das Kulturgut gerettet haben. Das wunderschön restaurierte Karussell ist jeweils am Knabenschiessen in Zürich in Betrieb. Es ist eines von nur noch einer Handvoll in der Schweiz. Viele professionelle Schausteller haben die alten Karusselle eingemottet, verkauft oder gar abgebrochen, zu viel Aufwand bei zu wenig Verdienst. Immerhin scheint das altmodische Karussell wieder Zukunft zu haben. Ein Luxusexemplar wurde etwa vom Europa-Park in Rust restauriert und dort fest installiert. 

In der deutschen Stadt Hanau bei Frankfurt wird im Park von Wilhelmsbad eines der ältesten Karusselle überhaupt einer umfassenden Restaurierung unterzogen. In einem Pavillon im Kurpark wurde es 1780 eröffnet und überstand, wenn auch schwer beschädigt, mehr als zwei Jahrhunderte. Nächstes Jahr soll es wieder betriebsfähig sein. Es erinnert an die Ursprünge des Karussells. Die sportlichen Turniere nach mittelalterlichem Vorbild waren zunächst mit echten Pferden und später – auch für Kinder und Familien – mit Holzpferden nachgeahmt worden. Auch wer sich kein Pferd leisten konnte, kam in den Genuss eines kühnen Ritts auf einem rassigen Pferd. So ist es bis heute. 

Die Rösslirytschuel der Stadt Zürich auf der Gemüsebrücke läuft bis am 18. Oktober bei schönem Wetter täglich am Nachmittag. Der Spielplan der Rössliriiti für Alli findet sich auf www.roessliriiti.ch.