Hätte ich mich doch mal besser informiert. Auf der Internetseite wäre nämlich gestanden, wie ich unmotorisiert am besten zum Startpunkt des Atemwegs komme. Der Flyer, den ich an diesem Donnerstagvormittag in den Händen halte, verrät es mir nämlich nicht.

Und so verbringe ich die ersten zehn Minuten dieses Ausflugs auf dem trottoirlosen Hauptstrassenrand, der mich von Walterswil AG ins benachbarteSafenwil führt. Statt Waldfrische wehen mir erst einmal Autoabgase ins Gesicht. Vielleicht, denke ich mir, damit ich den Atemweg später auch richtig zu schätzen weiss.

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Ab Trudi’s Blumenmarkt wird es besser. Hier verlasse ich die Hauptstrasse und erreiche bald das Schützenhaus, den Startpunkt des Atemwegs. Auf der Internetseite wäre auch gestanden, ob die Schützen gerade ihrem Hobby frönen und der Weg daher unpassierbar ist; hier zumindest habe ich Glück, die Barriere ist oben, ich darf losspazieren. Schüsse fallen keine, dafür motort eine Mähmaschine und ersetzt den Autolärm von eben.

Atmen ist anstrengend
Der erste Atemweg der Schweiz befindet sich im Aargau, im Wald zwischen Safenwil und Zofingen, zwischen Oftringen und Uerkheim. Seit 2016 können Spaziergängerinnen und Wanderer hier lernen, sich intensiver mit ihrer Atmung auseinanderzusetzen. Ins Leben gerufen hat diesen Weg ein Verein um Initiantin Lisbeth Bloch-Binz. Die Atemtherapeutin wünscht sich, damit «die Stubenhocker rauszulocken», wie sie selber sagt. Auf zehn Posten sind kleine Übungen notiert, die allesamt den Atem und das Atmen zum Thema haben. Therapieren möchte Bloch-Binz damit niemanden. «Aber ich möchte die Menschen sensibilisieren, ihnen zu merken geben, dass sie für ihre Atmung etwas tun können.»

Es geht rasch bergauf. Nicht besonders steil, aber ins Schnaufen komme ich schon. Als möchte mir der Weg direkt vor Augen führen, was ich falsch mache. Der erste Posten, denke ich mir, wird mir schon zeigen, wie ich besser atmen kann, wie mir die Puste weniger schnell ausgeht. Tatsächlich erreiche ich bald eine Infosäule. Posten 1. «Atem spüren», steht darauf. Darunter die Anweisung, fünfmal ganz tief Luft zu holen. Durch die Nase ein-, durch den Mund ausatmen. Und fühlen, wie ich atme. 

Gesagt, getan. Auf dem nächsten Abschnitt versuche ich mich so gut wie möglich auf meine Atmung zu konzentrieren. Durch die Nase rein, durch den Mund raus. Mir war noch nie bewusst, wie anstrengend atmen sein kann. Mental. Richtig ein- und auszuatmen scheint nämlich meine ganze Hirnkapazität auszuschöpfen; kaum lasse ich meine Gedanken zum Vogelgezwitscher zwischen den Ästen wandern, atme ich wieder falsch und komme aus der Puste.

«Wir machen Bodybuilding, gehen schwimmen und ernähren uns gesund», sagt Lisbeth Bloch-Binz, «aber kaum jemand denkt an seine Atmung.» Nach dem Spaziergang heute, hoffe ich, wird das zumindest in meinem Fall anders sein.

Ein Vitaparcours für Ruhe
Der nächste Posten ist wieder so ein Test: Eine steile Holztreppe, mit Eisenbahnschwellen in den Waldboden gebaut, deren Abstände so unterschiedlich sind, dass an ein regelmässiges Atmen kaum zu denken ist. Der Atemweg trägt dem Rechnung. Auf halber Strecke gewährt er mir eine Verschnaufpause und den Tipp, meinem «Atemrhythmus zu gehorchen und mein Schritttempo zu dosieren». Das funktioniert. Ich komme zwar nur noch kriechend voran, behalte dafür den Schnauf.

Zuoberst begrüsst mich das Rattern einer Motorsäge. Ein Warndreieck signalisiert mitten auf dem Waldweg: Holzschlag. Ich habe nochmals Glück, mein Weg ist nicht gesperrt – hier hätte wohl auch die Internetseite nicht geholfen. Auf einem Flachstück entferne ich mich vom Lärm und überhole – immer auf meinen Atem achtend – zwei spazierende Frauen. Sie seien auch auf dem Atemweg, bestätigt mir eine von ihnen, aber mit den Übungen nähmen sie es nicht so genau, sie würden lieber etwas plaudern.

Meine Übung lautet gerade: Fersen abrollen. Das gibt einen runden und beschwingten Gang, fast hüpfe ich dem nächsten Posten entgegen, einem Zickzack von Baumstämmen, über die ich balancieren soll. Später gelange ich an Reckstangen und Kunstturn-Ringe, an die ich mich hängen und dabei auf meinen Atem achten soll. Während ich plump dabaumele, zweckentfremdet ein junger Jogger das Gerät für Klimmzüge – der Atemweg ist also auch ein Vitaparcours.

Das war nicht die Idee von Initiantin Bloch-Binz, aber sie sagt: «Der Atemweg soll etwas Spielerisches sein. Man muss nichts, aber man darf alles.» Ihr Waldspaziergang soll aber bewusst keine Fitness-Übung darstellen: «Ich möchte die Leute nicht zu Anstrengungen bewegen, wir müssen sonst schon ständig Leistung bringen. Ich möchte sie zur Ruhe bringen, auf dem Atemweg dürfen sie auch mal absitzen.» Nicht von ungefähr stehen auf Bloch-Binz’ Lieblingsposten auch zwei Holzbänke, die «Atem-Kraft-Bänkli». An genau jener Stelle hat sie sich einst auch entschieden, Atemtherapeutin zu werden.

Nie roch der Wald besser
Es hat eine Weile gedauert. Aber inzwischen habe ich Autoabgase und Motorsägenlärm vergessen und bin voll und ganz in der Natur angekommen. Ich schaffe es inzwischen sogar, meine Gedanken den Waldrand entlangschweifen zu lassen, ohne meine Atmung zu vernachlässigen. Zur Nase ein, zum Mund aus. Über mir kreist ein Mäusebussard. Rechts von mir im Wald riecht es nach Harz und frisch gefällten Bäumen, links nach frisch gemähtem Feld. Und vor mir wartet ein riesiger Schaukelstuhl auf mich. Kein Tagtraum, sondern ein Posten auf dem Atemweg.

Zum Wippen bleibt mir nicht viel Zeit. Es beginnt zu tröpfeln. Nichts riecht besser als nasser Wald, ich nehme ihn intensiver wahr denn je, jetzt, wo ich weiss, wie ich ihn einatmen muss. Vermutlich rede ich mir das nur ein, aber das genügt mir. Zufrieden mache ich mich auf den Weg zurück in die Zivilisation. Den Autoabgasen allerdings, denen weiche ich erstmal grossräumig aus, dann bleibt mir der Wald-Atem in den Lungen vielleicht noch etwas erhalten.