Die Sonne stemmt sich langsam in den Bündner Himmel. Doch selbst jetzt, an einem der längsten Tage des Jahres, dauert es fast bis 10 Uhr, bevor sie die Schattseite des hinteren Safientals bescheint. Erwin Bandli hockt sich auf einen Felsblock im steilen Hang, schaut auf seine Yak-Herde und breitet seine Geschichte aus. Wie viele Bergler tut er sich am Anfang mit dem Reden ein bisschen schwer, aber dann berichtet er von einem Leben, seinem Leben, das erfüllt ist, fast könnte man von Glück reden. Doch Glück, das ist meist nur eine Momentaufnahme. Vielleicht wäre Zufriedenheit das bessere Wort.

Dass der Demeter-Bauer heute hier im Steilhang sitzt, dass er überhaupt Bauer wurde, war so nicht geplant. Denn die Kinder des Safientals teilen alle dasselbe Glück und Unglück: «Sie müssen fort, hinunter nach Bonaduz, Chur, Zürich oder noch weiter. Je nachdem, was sie lernen oder studieren wollen», sagt der drahtig-muskulöse Mann mit den kantigen Gesichtszügen, in dessen Haaren und Bart sich das Grau des Älterwerdens eingenistet hat. «Die meisten kommen nicht mehr zurück. Oder nur noch in den Ferien.»

Die meisten kommen nicht mehr zurück. Oder nur noch in den Ferien.

Erwin Bandli
Bauer im Safiental

Eine Seilschaft fürs Leben
Auch Erwin Bandli ging fort. Zunächst als Kind und Jugendlicher aufs Bärenhorn, den Safierberg, den Piz Tomül und wie die unwirtlichen, wunderschönen Felsen rings um das Safiental sonst noch heissen. Im Winter auf Skis, im Sommer wenn nötig mit Seil und Karabiner. «Schon mein Vater mochte die Berge, aber er hatte wohl weder die zeitlichen noch die finanziellen Möglichkeiten», sinniert Bandli. 

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Den Buben aber, der in der Zwischenzeit zum Mann und zum Maschinenschlosser geworden war, zog es weiter fort, über die heimischen Gipfel hinaus: Ein paar Monate Peru, Kanada oder Alaska. Dorthin halt, wo die schönsten Berge und Landschaften sind. «Es war eine gute Zeit», sagt der Bauer und stochert mit dem Stecken im Boden. «Dank den Reisen lernte ich fremde Menschen, Kulturen und Denkweisen kennen.» Nach einem Moment fügt er an: «Das kann ja nicht schaden.»

Die wichtigste Person in seinem Leben hat Bandli aber nicht irgendwo im fernen Nirgendwo getroffen, sondern 1980 auf einer Skitour in der Schweiz: Angelika. Aus dem benachbarten Tal Domleschg. Tiefbauzeichnerin und passionierte Berggängerin.  Die beiden schlossen sich zu einer Seilschaft zusammen, die alle Schwierigkeiten überwunden hat, die die Berge und das Leben bereithalten. 

Zu dieser Seilschaft gehören inzwischen drei Kinder, die schon keine Kinder mehr sind: Beat (24), Andri (22) und Mia (18). Die Bandli-Bande, wie sich die Familie ironisch selber nennt. Unnötig zu sagen, dass auch die drei das Schicksal aller Safierkinder teilen: Das frühe Fortgehen. Noch kommen sie aber alle immer wieder heim. Und alle sagen, dass sie irgendwann hier leben wollen. Die Zeit wird’s zeigen. Und das Job-Angebot. 

Uns war klar, dass es das nicht gewesen sein kann.

Erwin Bandli
Bauer im Safiental

Inzwischen steht die Sonne im Mittag und bescheint das ganze, 15 Kilometer lange und raue Tal mit seinen rund 300 Bewohnerinnen und Bewohnern. Erwin nimmt den Faden wieder dort auf, wo er Angelika kennen gelernt hat. «Uns war bald klar, dass es das nicht gewesen sein kann. Also das Leben lang Tiefbauzeichnerin respektive Maschinenschlosser sein. Und womöglich noch in einer Reihenhaussiedlung wohnen.» 

«Der Erwin geht kaputt» 
Sie sparten fürs Reisen, waren eigentlich schon auf dem Sprung in fremde Welten – und bewarben sich dann doch ohne grosse Hoffnung als Hüttenwarte in der Rotondo-Hütte des SAC. «Wir erhielten die Stelle, arbeiteten in der Saison wie die Verrückten – und hatten dann immer drei Monate Ferien», erzählt der 62-Jährige. «In diesen drei Monaten fuhren wir im umgebauten Bus der Nase respektive den Bergen nach. Meist nach Norden: Norwegen etwa, Schweden oder Island.» Nach sieben Jahren auf der Rotondo-Hütte, in dieser Gegend, wo sich Uri, Wallis und Tessin eng umarmen, wurde es Zeit zu gehen. «Wir wollten Kinder. Aber Gebären und Kinder grossziehen auf in einer SAC-Hütte ...» Bandli lässt den Satz offen. 

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Und dann war das Turrahus – das Turmhaus  – ausgeschrieben. Ein schweizweit bekanntes Berggasthaus zuhinterst im Safiental. «Wir übernahmen es und gaben alles», sagt Bandli. «Es lief wie verrückt, teilweise kamen die Gäste busweise aus den Flimser Nobelhotels, um bei uns Zvieri zu essen. Die Zimmer waren fast immer ausgebucht.» Die beiden gaben wirklich alles. Aber alles war dann eben zu viel. Ein Freund der Bandli-Bande sagte zu Angelika: «Pass auf, ihr arbeitet nur. Die Berge seht ihr bestenfalls noch von unten, für die Kinder habt ihr kaum Zeit. Und der Erwin geht hier langsam, aber sicher kaputt.» 

Nach vier Jahren Turrahus war die Zeit also gekommen, um weiterzugehen – aber wohin? Angelika wollte vieles in ihrem Leben. Nur nie Bäuerin werden! Sagte sie auf jeden Fall zu Erwin, als sie sich kennenlernten. «Aber dann war sie die treibende Kraft, als es darum ging, den Hof meiner Eltern zu übernehmen», spinnt Erwin den Faden weiter und grinst. Und weil man als Bauer einfach nicht mehr so viel in die weite Welt hinausgehen kann; weil die Bandlis nur wenig Land hatten und weil dieses wenige Land auch nicht unbedingt sehr gutes Land war, entschieden sie sich für Yaks. Die sind genügsam und machen mit ihrer Berggängigkeit selbst Gämsen neidisch. Und dann ist da noch was: «Mit den Yaks, den zwei Kamelen und den Lamas holten wir die Welt zu uns nach Hause.»

Das Normalste der Welt
Ist ein Yak schlachtreif, kann Angelika jeweils nächtelang nicht schlafen vor Kummer. Erwin begleitet dann das Tier zum nahen Schlachthaus und bleibt bei ihm, bis es tot ist. Die Lamas werden für Trekkings eingesetzt, welche Angelika leitet. Die Kamele müssen – nichts. Genau so wenig wie Kailash, der liebste Hund der Welt. «Sie sind. Das ist genug», sagt Erwin. Dass die Bandlis biologisch wirtschaften, darüber gab es nie Diskussionen. «Aber als Bio Suisse das Enthornen der Kühe erlaubte, ging Angelika fast durch die Decke und wir wechselten zum strengeren Demeter-Label.» 

Mit den Yaks, den zwei Kamelen und den Lamas holten wir die Welt zu uns nach Hause.

Erwin Bandli
Bauer im Safiental

Seit nunmehr zwanzig Jahren wohnen die Begründer der Bandli-Bande wieder im Ort Safien Platz im 400-jährigen Haus von Erwins Eltern. Hier, in der grossen Küche steht der riesige Küchentisch. Sozusagen der Nabel der Bandli-Welt. Hier stand das Laufgitter für die Kinder und auch für ein Yak-Kalb. «Es wurde von seiner Mutter nicht akzeptiert, also haben wir es einfach zu uns genommen, bis es nicht mehr mit dem Schoppen gesäugt werden musste», sagt Erwin Bandli. «Das ist für uns das Normalste der Welt.» 

Das Normalste der Welt ist für Erwin auch, dass diese Welt kleiner geworden ist, dass er nicht mehr die höchsten Berge der Welt erklimmen will. Nicht nur wegen der Kollateralschäden des Lebens – etwa ein Augenproblem oder ein Kameltritt, der seinem Knie nicht wirklich gut getan hat. «Nein – es ist einfach so. Es gibt eine Zeit für alles», sagt er. «Ich bin zufrieden und dankbar für alles. Für Angelika, das Tal, die Kinder, die Tiere. Für das Leben, das ich führen darf.»