Auch wenn es gerade an heissen Sommertagen anders erscheinen mag: Ein Hund braucht mehr als Futter und Schlaf. Um eine möglichst stabile und positive Mensch-Hund-Beziehung zu erreichen, sollten Hundebesitzer die ureigenen Bedürfnisse ihrer Vierbeiner kennen. 

Dafür hilft ein Blick auf die Bedürfnispyramide von Abraham Maslow (siehe Grafik). Obwohl der amerikanische Psychologe sie ursprünglich für den Menschen entwickelte, kann sie ebenso gut für den Hund adaptiert werden. Über den Stellenwert des Bedürfnisses entscheidet seine Platzierung innerhalb der fünfstufigen Pyramide: je tiefer, desto wichtiger. 

Genau wie beim Menschen stehen die physiologischen Bedürfnisse für den Vierbeiner  an erster Stelle. Sie sichern das Überleben des Tieres und umfassen Futter, Wasser, Atmung / Sauerstoff, Schlaf- und Ruhephasen, Schmerzfreiheit, Kälte- und Wärmeschutz sowie körperliche Auslastung.

Erst wenn ein Hund die Erfahrung gemacht hat, dass seine Grundbedürfnisse befriedigt werden, kann er sich sicher fühlen. Die Erfüllung der Sicherheitsbedürfnisse bildet die wohl wichtigste Grundlage einer vertrauensvollen Mensch-Hund-Beziehung. Zu ihnen zählen neben einem sicheren Schlafplatz oder Umfeld und Schutz vor körperlicher Versehrtheit feste Tagesabläufe, Rituale und Gewohnheiten sowie insbesondere konsequente Regeln und Grenzen.

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Kann sich ein Hund darauf verlassen, in Sicherheit zu sein, kommen die sozialen Kontakte ins Spiel, insbesondere diejenigen zum Menschen. Sie werden durch gemeinsame Aktivitäten und Körperkontakt gefördert. Auch der Kontakt mit Artgenossen kann individuell wichtig sein, ist im Vergleich zu dem mit Menschen aber eher zweitrangig. Daneben fallen auch Paarung und Fortpflanzung in diese Kategorie.

Regeln geben Sicherheit
Je mehr Bedürfnisse der unteren drei Kategorien erfüllt sind, desto motivierter ist ein Hund, die vierte Stufe der Maslow-Pyramide zu erklimmen. Diese umfasst sein Bedürfnis nach Anerkennung und Wertschätzung und prägt massgeblich das Selbstwertgefühl des Hundes. Status, Respekt und Erfolg sind die zentralen Elemente, die bei der gemeinsamen Beschäftigung zwischen Hund und Mensch – etwa beim Spielen, Suchen und Jagen – aber auch im Training gefördert werden. 

Die Spitze der Pyramide bildet schliesslich die Selbstverwirklichung des Hundes, also sein Streben, die individuelle Persönlichkeit zu entwickeln. Oder um es vereinfacht zu sagen: Hier darf der Hund einfach Hund sein. Er darf sich entfalten und das tun, was er tun möchte wie rennen, buddeln, hetzen und seine Triebe ausleben. Zu seiner eigenen Sicherheit und derjenigen der Umwelt muss der Mensch hier selbstverständlich begrenzend eingreifen. 

Nachfolgend gibt Andrea Häberle, tierpsychologische Beraterin VIETA (Verband und Interessengemeinschaft der Ethologen und Tierpsychologen mit Ausbildung) und Hundetrainerin bei «AHA Hund» aus Rickenbach ZH praktische Tipps, wie man die Maslov-Pyramide im Alltag einbauen kann.  

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Frau Häberle, warum ist es für Hundehalter so wichtig, die Bedürfnisse des Hundes zu kennen?
Gerade wenn Training und Erziehung nicht so laufen wie gewünscht, sollte man sich fragen, ob der Hund die an ihn gestellten Erwartungen überhaupt erfüllen kann. Je nach Problem muss man dann eine Ebene der Bedürfnispyramide herabsteigen, etwaige Defizite erkennen und beseitigen. 

Bei welchen Defiziten gibt es die häufigsten Probleme?
Die Grundbedürfnisse sowie die Ebenen Sicherheit und Selbstverwirklichung sind am anfälligsten. Gerade die Probleme im Zusammenhang mit den körperlichen Bedürfnissen sind vielfältig. Leidet ein Hund zum Beispiel unter unserem Alltagsstress oder wird er als Sportgerät missbraucht, gerät er in Dauerstress und kann den Cortisolspiegel nicht mehr auf ein gesundes Niveau senken. Er findet keine Ruhe, kriegt zu wenig Schlaf und kann nicht regenerieren. 

Und was geht zu Lasten des Sicherheits­bedürfnisses?
Hier erlebe ich häufig, dass Hunde von der Bezugsperson in herausfordernden Situationen, wie zum Beispiel Hundebegegnungen, zu wenig unterstützt werden. Dies beschädigt das Vertrauen und kann schlimmstenfalls unerwünschtes Verhalten wie zum Beispiel eine Leinenaggression auslösen. Ausserdem mangelt es oft an Konsequenz und Regeln, an denen sich der Hund orientieren kann. 

Hundehalter müssen herausfinden, welche Talente und Hobbys der Hund hat.

Andrea Häberle
Tierpsychologische Beraterin VIETA

Aber oft hat man als Hundehalter das Gefühl, dass Regeln den Hund eher nicht so glücklich machen, oder?
Regeln geben Sicherheit! Im Zusammenhang mit dem Strassenverkehr sind sie unumstösslich. Schliesslich geht es hier um das körperliche Wohl des Hundes. In anderen Situationen gehe ich auch mal einen Kompromiss ein. Ich sehe das Mensch-Hund-Team als eine freundschaftliche Beziehung, bei der ich bei wichtigen Entscheidungen das letzte Wort habe.

Wie kann ich die Individualität meines Hundes am besten fördern? 
Indem ich seine genetische Disposition und sein Naturell berücksichtige. Einen jagdlich motivierten Hund interessiert es zum Beispiel wenig, wenn ich ihm Leckerchen in den Schlund werfe. Hundehalter müssen herausfinden, welche Talente und Hobbys der Hund hat. Hierüber entscheidet in erster Linie die Rasse. Ein Retriever zum Beispiel sucht und apportiert gerne. Stöberhunde wie Spaniel mögen Fährtensuche oder Mantrailing, Border Collies lieben Intelligenzspiele und Kunststücke. Hier gibt es allerdings auch Ausnahmen, weil Charakter und soziale Prägung ebenfalls eine Rolle spielen. 

Müssen für das perfekte Hundeglück wirklich alle Bedürfnisse erfüllt sein? 
Im Idealfall ja! Da der Hund aber ein selbstloses und anpassungsfähiges Tier ist, gibt er sich oft schon mit erstaunlich wenig zufrieden.