Wenn Katzen wählen könnten, würden die meisten vermutlich in einem frei stehenden Häuschen im Grünen leben – umgeben von naturbelassenen Wiesen, in denen man hervorragend Mäuse und Schmetterlinge jagen kann, und Bäumen zum Klettern und Ausschauhalten. In der Nachbarschaft gäbe es nicht zu viele Menschen, keine Hunde oder viel befahrenen Strassen und kaum andere Katzen. Und ihre Zweibeiner würden zu festen Zeiten den Napf füllen sowie für Spiel- und Streicheleinheiten parat stehen. Doch Traumhäuschen im Grünen sind in unserem dicht besiedelten Land selten, oft zu weit weg vom Arbeitsplatz und immens teuer.

«Viele Menschen weichen dann in eine verkehrsberuhigte Reihenhaussiedlung aus, um ihrer Katze abseits des Grossstadtverkehrs ein entspanntes Leben als Freigänger zu schenken. Doch die Idylle trügt», sagt Tanja Reinschmidt aus dem deutschen Nauheim. Denn der Lebensraum der Katze ende nicht am eigenen Gartenzaun. «Das Büsi muss sich durch das Gewirr von fremden Zäunen, Hecken, Wasserspeiern, Rasenmähern, Hunden, spielenden Kindern einen sicheren Weg suchen, um seine Reviergrenzen regelmässig abzulaufen und seine Grenzmarken zu erneuern.» Die in der Schweiz zertifizierte Tierpsychologin Reinschmidt hat in ihrer Praxis «Kummerkatze» zunehmend mit Freigängern zu tun, die so unter dem Stress draussen leiden, dass sie in der Wohnung markieren und andere Verhaltensauffälligkeiten zeigen.

Ein Problem, viele Symptome
In vielen modernen Wohnsituationen herrscht für die meisten Katzen quasi ständig Katastrophenalarm. Sie müssen sich mit Menschen arrangieren, die vielleicht keine Katzen mögen, mit Kindern, die erst noch lernen müssen, dass Katzen nicht gerne «Fangis» spielen oder im Puppenwagen sitzen wollen. Es gibt potenziell gefährliche Hunde, eine Menge unangenehme Geräusche und Gerüche, Asphalt und englischen Rasen statt Jagdparadiese. Zwar existieren durchaus dickfellige Katzen, denen der Trubel kaum etwas auszumachen scheint – sensiblere Kandidaten reagieren aber ängstlich bis aggressiv auf die Bedrohungen.

Erschwerend kommt hinzu, dass es in der Nähe meist zahlreiche Artgenossen gibt. Revierstreitigkeiten können zum Teil jahrelang andauern und immer wieder aufflammen, etwa, wenn ein Tier nach einem Aufenthalt in der Katzenpension zurückkehrt oder eine neue Katze hinzuzieht. Gerade für die schwächeren Tiere, die in den Kämpfen immer wieder den Kürzeren ziehen und so eventuell nicht einmal den Garten als ihr eigenes Revier verteidigen können, bedeutet das Verletzungsgefahr und enormen Stress. «Solche Revierstreitigkeiten werden von den Haltern meist nicht realisiert oder nicht ernst genommen, zumindest solange die Katze nicht aufgrund des Dauerstresses erkrankt und/oder im Haus zu markieren beginnt», sagt Reinschmidt.

Weitere Anzeichen dafür, dass die Katze draussen unter Stress leidet, sind unter anderem aggressives Verhalten gegenüber Sozialpartnern (Menschen, befreundete Katzen, Hunde), verringertes oder exzessives Putzen, Berührungsempfindlichkeit, gestörtes Essverhalten oder häufiges Erbrechen. Betroffene Katzen verlassen das Haus oft nur zögerlich und meiden die Katzenklappe, da dort ein Rivale warten könnte. Sie verbringen überdurchschnittlich viel Zeit mit Fenstergucken, rennen gelegentlich panisch ins Haus zurück und verstecken sich oder patroullieren im Haus auf und ab.

Unterschiedlich grosse Stresstoleranz
Ob und wie sehr eine Katze von ihren Ausflügen in die grosse weite Welt überfordert wird, hängt von ihrem individuellen Temperament, aber auch der Rasse und der Erfahrung in den ersten Lebensmonaten ab. Einige Rassen, darunter Britisch Kurzhaar, Maine Coon, Ragdoll, Kartäuser und Norweger, seien für ihr stabiles Nervenkostüm und ein gewisses Phlegma bekannt, sagt die Tierpsychologin: «Sie kommen mit turbulenten Lebensumständen in der Regel leichter zurecht als hibbelige Orientalen oder sensible Perser.» Andere Rassen wie Burmesen, Bengalen und Siamesen, zeichneten sich dagegen durch ihr starkes territoriales Verhalten aus und heizten oft die Revierstreitigkeiten an.

Wie hoch die Stresstoleranz einer Katze und ihr Verhalten gegenüber Artgenossen ist, hänge aber auch davon ab, wie sie als Katzenkind sozialisiert wurde. Eine selbstbewusste Katze, die bei einer kinderreichen Familie mit Hunden gross geworden ist, hat in der besagten Reihenhaussiedlung sicher weniger Probleme als ein sehr scheues, ängstliches Tier, das das letzte Jahr im Tierheim verbracht hat.

Doch was tun, wenn die Katze vom «Draussen» überfordert ist? Ein Umzug der Katze zuliebe ist selten realisierbar. Es kann sinnvoll sein, den Garten aus- und einbruchsicher einzuzäunen (siehe auch «Tierwelt» Nr. 30/2016), doch den gestressten Freigänger fortan einfach nicht mehr nach draussen zu lassen, ist in den wenigsten Fällen eine Lösung. «Die Beschränkung des Freiraums stellt auch wieder einen Stressor dar. Zumal auch Wohnungskatzen unter Verfolgungsangst leiden können, wenn der dicke Kater von nebenan ständig vor der Terrasse steht und provoziert», sagt Reinschmidt.

Man könne seiner in Bedrängnis geratenen Katze dennoch helfen, zum Beispiel, indem man im Garten erhöhte, sichere Aussichtsplattformen einrichtet, Raufbolde mit Bewegungsmeldern, Rasensprengern oder Alarmtrittmatten vom Grundstück vertreibt, an Problemfenstern einen Sichtschutz anbringt und darauf verzichtet, Streuner zu füttern. Können sich die Nachbarn einigen, ihre Katzen zu unterschiedlichen Zeiten nach draussen zu lassen, kann auch das die Situation entschärfen. Manchmal kann es nötig sein, die Katzenklappe abzuschaffen, etwa, wenn der Katze immer dort aufgelauert wird oder fremde Katzen versuchen, ins Haus zu kommen.

«Ganz wichtig ist, dass der Halter zunächst die Not der Katze versteht, denn in der Regel eskaliert auch die Beziehung zum Halter, wenn die Katze, um sich selber zu beruhigen, beginnt in der Wohnung zu markieren oder aggressives Verhalten gegenüber Sozialpartnern zeigt», sagt Reinschmidt. Der Katze mehr Selbstbewusstsein und Sicherheit vermitteln könne man, indem man sie nach draussen begleite und sich auch ansonsten intensiv mit ihr beschäftigt. Neben Streicheleinheiten können zum Beispiel Intelligenzspiele und Klickertraining auf dem Programm stehen. «Solche Massnahmen verändern natürlich nicht die Umgebung, fördern aber das Selbstbewusstsein der Katze. Und manchmal reicht schon ein sicheres Auftreten, damit ein zuvor drangsaliertes Tier fortan von den Nachbarskatzen in Ruhe gelassen wird.»