Draussen sind Katzen ganz in ihrem Element. Selbst wenn ihr Futternapf immer reichlich gefüllt ist, verbringen sie viel Zeit damit, auf der Lauer zu liegen, sich anzuschleichen und zu jagen; sie nutzen Bäume als Kletterspielplätze und zum Schärfen der Krallen und suchen sich für die Siesta ein Sonnenplätzchen im Blumenbeet. Freigänger durchstreifen ihre Reviere, markieren die Grenzen und halten Ausschau nach Eindringlingen. Raschelnde Blätter, Vögel, Insekten, Passanten und angsteinflössende Hunde sorgen dafür, dass es nie langweilig wird. Könnten wir unsere Samtpfoten fragen, ob wir ihnen Tür oder Fenster zu diesem Abenteuerspielplatz öffnen sollen, wären die meisten vermutlich begeistert.

Katzenbesitzer tun sich mit der Entscheidung schwerer. Draussen lauern Gefahren: Autos, Hunde, streitlustige Artgenossen, Giftpflanzen und Nachbarn mit ausgeprägter Katzenaversion. Und anders als Katzen, die von klein auf draussen herumstromern, haben solche, die erst im fortgeschrittenen Alter die weite Welt entdecken, noch nicht gelernt, sich gegen den frechen Kater von nebenan zur Wehr zu setzen und beim Treffen mit unangeleinten Hunden auf den nächsten Baum zu flüchten.

Freigang ist artgerecht
Sollte man einem Stubentiger, der die ersten Lebensjahre ausschliesslich in der Wohnung verbracht hat, dennoch Freigang ermöglichen, wenn es die Umstände erlauben? Also zum Beispiel bei einem Besitzerwechsel oder wenn man die Wohnung an der Schnellstrasse gegen das Häuschen im Grünen eintauscht? Ja, meint Tatjana Minzlaff, diplomierte Tierpsychologin aus Oetwil am See ZH – zumindest wenn keine schwerwiegenden Argumente dagegensprächen: «Wenn die Katze kein Rassetier respektive noch nicht sehr alt oder krank ist, würde ich immer Freigang ermöglichen, da das artgerecht ist und das Tier zufrieden macht.» Natürlich dürfe man nicht leichtsinnig sein. «Aber Verantwortung bedeutet eben nicht nur, dass man die Katze vor allfälligen Gefahren schützen, sondern ihr auch zu einem möglichst artgerechten Leben verhelfen sollte.» Gerade bei Katzen, die einzeln gehalten werden, und wenn der Halter nicht genug Zeit habe, sich ausreichend mit ihr zu beschäftigen, sodass sie ihren Jagd- und Spieltrieb ausleben kann, könne der Freigang das Leben lebenswerter machen.

Wie gefährlich dieser letztendlich ist, hängt natürlich von der Wohnsituation, aber auch von der einzelnen Katze ab. «Die einen gehen cool mitten in der Grossstadt über den Zebrastreifen oder mausen jahrelang neben der Autobahn. Andere Katzen überqueren einmal eine Strasse und schon ist es passiert. Ich glaube, dass das auch einfach Schicksal ist. Man kann nicht alles verhindern», sagt die Tierpsychologin, die Besitzer von Katzen, Hunden und Pferden berät. Natürlich sei es immer wichtig, die individuelle Situation zu betrachten und im Einzelfall abzuwägen.

Aussengehege mit Netz als Kompromiss
Gegen den Freigang spricht zum Beispiel, wenn sich die Wohnverhältnisse schon bald wieder ändern könnten. Hat eine Katze nämlich einmal Gefallen am Freigang gefunden, kann man sie nicht einfach wieder zur Wohnungskatze machen. Bei Rassekatzen haben viele Besitzer Angst, die wertvollen Tiere zu verlieren. Schwierig ist Freigang auch für Zuchttiere. Bei unkastrierten Katzen besteht draussen das Risiko, dass sie unkontrolliert gedeckt werden. Unkastrierte Kater haben ein grosses Revier und sind auch am ehesten in blutige Kämpfe mit Geschlechtsgenossen verwickelt. Aber Freigängerkatzen sollten ohnehin kastriert sein.

Absprache mit dem Tierarzt ist notwendig, wenn die Katze regelmässig Medikamente braucht, zum Beispiel, weil sie an Asthma oder Diabetes leidet oder sich aufgrund einer Krankheit oder Behinderung nicht mehr richtig gut bewegen kann. «Auch würde ich Katzen, die älter als zehn Jahre sind und ihr Leben lang in der Wohnung gehalten wurden, nicht uneingeschränkt Freigang gewähren, weil sie die Gefahren draussen einfach nicht kennen. Zudem hören und sehen Katzen ab einem gewissen Alter oft nicht mehr so gut wie jüngere Tiere», sagt Minzlaff. Hat man ein Haus oder eine Wohnung mit Garten oder Terrasse, kann in solchen Fällen ein Aussengehege mit Netzen ein guter Kompromiss sein.

Bevor man die Katze in den Garten lässt oder eine Katzenklappe einbaut, sollte sie sich nach einem Umzug natürlich an ihr neues Zuhause gewöhnen. Wie lange das dauert, ist verschieden, meist reichen etwa zwei Wochen. Kommen zum Umzug aber auch noch ein Besitzerwechsel oder andere Veränderungen wie ein neuer Partner, ein Baby oder ein neues Haustier hinzu, empfiehlt sich, das gewohnte Indoor-Programm noch ein bisschen länger, sechs bis acht Wochen, weiterlaufen zu lassen. Für den Fall der Fälle sollte die Katze vor dem ersten Freigang gechipt und in der ANIS-Datenbank (www.anis.ch) eingetragen sein – das hilft, verschwundene Tiere  wiederzufinden. Entscheidet man sich für ein Halsband, sollte man unbedingt ein Modell wählen, das sich öffnet, wenn die Katze irgendwo hängen bleibt.

Am Anfang sind Katzen vorsichtig
Wenn es so weit ist und zum ersten Mal die Tür in die Freiheit geöffnet werden soll, haben die meisten Katzenbesitzer verständlicherweise Herzklopfen. Damit kein unnötiger Stress aufkommt, sollten die ersten Ausflüge nicht kurz vor Einbruch der Dunkelheit oder Arbeitsbeginn stattfinden. Beruhigend für Katze und Halter: Die ersten Erkundungstouren im Garten oder auf dem Feldweg hinterm Haus gemeinsam machen. «Bei älteren Tieren zwischen sechs und zehn Jahren kann es sinnvoll sein, die Nachbarschaft mehrmals mit der Leine abzugehen und sie ihren Duft markieren zu lassen. Die meisten Reviere werden ja schon von alteingesessenen Katzen beansprucht. An der Leine kann der Neuzuzügler ohne Gefahr die Umgebung erkunden und gleichzeitig langsam sein Gebiet erobern», rät  Tatjana Minzlaff.

Zum Glück ist es aber auch ohne Leine extrem unwahrscheinlich, dass die Samtpfote in den ersten Tagen Vollgas gibt, nach draussen stürmt, über den Zaun klettert und in den Nachbargärten verschwindet. Katzen erkunden neue Umgebungen in der Regel recht vorsichtig. Es kann sogar passieren, dass eine, die noch nie zuvor draussen war, am Anfang nur wenig Interesse zeigt, vielleicht kurz die Terrasse inspiziert und nach zwanzig Minuten wieder reingeht, um ein Nickerchen zu machen. Das sei nicht ungewöhnlich und auch kein Grund dafür, das Projekt «Freigang» wieder abzubrechen, sagt Minzlaff.  «Katzen lieben das Gefühl, jederzeit rausgehen zu können. Wie viel Freiheit sie dann nutzen möchten, sollte man ihnen überlassen. Oft kommen sie mit der Zeit auf den Geschmack und werden mutiger.»