Schönheitswahn im Regal
Von Ugly Fruits bis Ünique: Initiativen gegen Lebensmittelverschwendung
Zu lang, zu krumm: Sie sind nicht die Schönsten im ganzen Land, aber trotz optischem Makel zu schmackhaft und zu gesund, um auf dem Acker oder im Kompost zu verrotten. Von vielversprechenden Rettungsaktionen für kulinarische Sonderlinge.
Hand aufs Herz: Liegen eine kleine, knorrige und eine kerzengerade, formvollendete Karotte im Regal nebeneinander, welche gelangt in Ihren Einkaufskorb? Die meisten schnappen sich Variante zwei – so die Erkenntnis im Detailhandel. «Unsere Gesellschaft ist sehr visuell orientiert, das zeigt sich bei Früchten und Gemüse im Offenverkauf deutlich. Die Kundschaft greift meist intuitiv nach den schönsten Stücken – nicht ganz makellose Ware bleibt tendenziell liegen», sagt Tobias Ochsenbein, Mediensprecher beim Migros-Genossenschafts-Bund. Und genau hier liegt der Hase im Pfeffer: Auf der einen Seite sind da Konsumentinnen und Konsumenten, die hohe Anforderungen an Frische, Qualität und Aussehen stellen und nicht normkonforme Ware meist links liegen lassen, auf der anderen Seite wird der Ruf nach griffigen Massnahmen gegen Lebensmittelverschwendung – kurz Food Waste – immer lauter.
«Die Kundschaft greift meist intuitiv nach den schönsten Stücken.»
Tobias Ochsenbein Mediensprecher beim Migros-Genossenschafts-Bund
Die Zahlen sind imposant: In der Schweiz gehen jedes Jahr rund 2,8 Millionen Tonnen Lebensmittel vom Feld bis zum Teller verloren – das entspricht etwa 330 Kilogramm pro Person und Jahr. Dabei entstehen 20 Prozent aller Lebensmittelverluste in der Landwirtschaft, insbesondere auch, weil nicht normgerechte Produkte aussortiert oder von der Kundschaft verschmäht werden. Klar ist: Für diese optische Versessenheit bezahlt die Umwelt mit unnötigem Land- und Wasserverbrauch, Biodiversitätsverlust und CO2-Emissionen einen hohen Preis.
Die gute Nachricht ist: Dass intakte, nährstoffreiche Lebensmittel nicht verschwendet werden dürfen, ist laut einer Studie der ETH Zürich durchaus im kollektiven Bewusstsein verankert. Beim effektiven Kaufentscheid setzt das Auge die Vernunft aber offensichtlich ausser Gefecht. Deshalb – auch das ein Ergebnis der Studie – befürwortet die Mehrheit der Bevölkerung strengere Food-Waste-Regeln in Form von staatlichen Vorschriften, die Reduktionsziele vorgeben und eine transparente Kontrolle der Umsetzung garantieren.
Teller statt Tonne
Was ist bisher geschehen? Im Jahr 2022 hat der Bundesrat einen Aktionsplan gegen die Lebensmittelverschwendung verabschiedet, der die Halbierung der Menge an vermeidbaren Lebensmittelverlusten in der Schweiz bis 2030 gegenüber 2017 vorsieht. Teil davon ist eine branchenübergreifende Vereinbarung zur Reduktion von Lebensmittelverlusten, die bisher rund 40 Unternehmen aus Handel, Gastronomie, verarbeitender Industrie und Landwirtschaft unterzeichnet haben, darunter auch Coop und Migros. Doch wie sicherstellen, dass diese auf Freiwilligkeit beruhende Vereinbarung der Verschwendung wirklich einen Riegel schiebt? Die Migros ihrerseits hat bereits mehrere Massnahmen Richtung mehr Nachhaltigkeit umgesetzt. «Wir sorgen dafür, dass unser Angebot bestmöglich der Nachfrage entspricht, um Verluste so gering wie möglich zu halten», so Migros-Sprecher Tobias Ochsenbein. Zudem nehme die Migros Bäuerinnen und Bauern grosse Mengen Gemüse und Früchte ab, welche nicht den Normen entsprechen; sie werden in der eigenen M-Industrie und in den Gastrokanälen weiterverarbeitet – zu Suppen, Saucen oder Säften.
Einen anderen Weg geht Coop mit seiner Eigenmarke «Ünique», mit der die Genossenschaft allein im Jahr 2024 rund 3020 Tonnen Früchte und Gemüse gerettet hat. Die Nachfrage nach diesen ungewöhnlich geformten Früchten und Gemüse ist laut Coop seit mehreren Jahren am Steigen und bei der Kundschaft – auch wegen des tiefen Preisniveaus – äusserst beliebt. Zudem habe Coop vor zwei Jahren gemeinsam mit dem Verband Schweizer Gemüseproduzenten die Normen angepasst, um den Anteil der nutzbaren Ernte zu erhöhen, schreibt die Medienstelle auf Anfrage.
Wider die Wegwerfkultur
Doch der Ball liegt auch bei der Kundschaft. Welche Rolle spielt es, dass die Kartoffel zwei Einbuchtungen zu viel hat, wenn sie ohnehin zu Püree wird? Auch einer Aprikose sind Hageldellen in der Konfitüre nicht mehr anzusehen. Ganz zu schweigen vom hohen Unterhaltungswert einer dreibeinigen Karotte, die am Familientisch die Runde macht. Auch der Verein foodwaste.ch kommt zum Schluss: «Acht Millionen Menschen können viel verändern» und empfiehlt, auch unförmigem Obst und Gemüse eine Chance zu geben. Warum nicht beim Bauern in der Region nachfragen, ob aussortiertes Obst und Gemüse für den privaten Gebrauch oder für ein Projekt gegen Food Waste bezogen werden kann, regt der Verein an. Auch auf Social-Media-Plattformen, auf dem Wochenmarkt oder in Hofläden wird oft nicht normkonformes Obst und Gemüse zu günstigen Konditionen angeboten. Und da sind die zig lokalen Initiativen, die dafür sorgen, dass sich der Wind im Umgang mit «hässlichen» Früchtchen wendet: Dank eines Filters lässt sich auf foodwaste.ch/lokale-initiativen nach Projekten in nächster Umgebung suchen, die blassen Äpfeln oder mehrbeinigen Rüben zu einem glamourösen Auftritt auf dem Teller verhelfen.
Am langen TischBei «Foodsave-Banketten» (foodsave-bankette.ch) werden an über 30 Orten in der ganzen Schweiz Festessen aus Überschüssen und Produkten kreiert, welche aufgrund von Normanforderungen nicht im Detailhandel verkauft werden konnten. Passantinnen und Passanten sind eingeladen, an einer langen Tafel ein Menü zu geniessen. Die Aktion will auch für einen wertschätzenden und achtsamen Umgang mit Lebensmitteln sensibilisieren.
Adieu VerschwendungDas 2018 gegründete Unternehmen Ugly Fruits (uglyfruits.ch) sagt der Lebensmittelverschwendung den Kampf an. Mit den Bio-Obst- und -Gemüsekörben, die in verschiedenen Grössen zu günstigen Preisen und innert48 Stunden in die ganze Schweiz ausgeliefert werden, erhalten krumme Karotten & Co. eine zweite Chance. Das Unternehmen kauft Biobauern jene Erzeugnisse ab, die aufgrund von Formen- und Grössenbestimmungen des Detailhandels unverkäuflich sind.
Saucen, Bouillons, MayosDas vom Food-Waste-Pionier Mirko Buri (foodoo.world) gegründete Unternehmen Foodoo verarbeitet aussortiertes Gemüse, das sich im Grosshandel nicht vermarkten lässt, zu diversen Produkten wie Essig, Konfitüren, Ketchup, einer Foodonaise aus Süsskartoffeln, Gemüsebouillons und Salatdressings. Das Unternehmen kauft Bauern nicht normgerechtes, frisches Gemüse ab und verarbeitet es zu Produkten weiter, die in der ganzen Schweiz erhältlich sind.
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