Meierskappel im Kanton Luzern. Dunkle Wolken zeigen sich am Himmel. Unbeeindruckt vom aufziehenden Gewitter grasen die Kühe weiter, stets einen Blick auf den Nachwuchs gerichtet. Während ein Kalb im Gras liegt, weicht ein anderes dem Stier aus, der einer Kuh Avancen macht. Ein lautstarker Chor aus hohem und tiefem Muhen kündigt an, dass der Rest der Herde die Verdauungspause im Stall beendet hat und auf die Weide drängt.

Es sind Rinder der in der Regel hornlosen schottischen Rasse Luing – Ling gesprochen – und sie leben auf einem Hof am Mutterkuh-Erlebnisweg, einem einstündigen Spaziergang mit informativen Plakaten. Man erfährt viel über die verschiedenen Rassen, über die auf die Fleischproduktion ausgerichtete Mutterkuhhaltung und was zu beachten ist, wenn man einer Herde begegnet (siehe Box). Immer wieder zu sehen ist das idyllische Bild weidender Kühe und Kälber, das für viele Konsumentinnen und Konsumenten die Idealvorstellung moderner Rinderhaltung darstellt.

Die Kälber wachsen bei ihren Müttern auf, trinken ihre Milch und fressen fast nur oder ausschliesslich Gras und Heu. Gemäss Richtlinien des Vereins Mutterkuh Schweiz ist die Fütterung mit Soja, Palmfett sowie wachstumsfördernden Zusatzstoffen und gentechnisch veränderten Futterbestandteilen verboten. Die Tiere sind täglich draussen: von Frühling bis Herbst auf der Weide, im Winter auf dem Laufhof. Die 5771 Betriebe, die bei Mutterkuh Schweiz Mitglied sind, werden regelmässig kontrolliert. Ein Zertifikat bestätigt ihnen für jedes Tier, dass sie die Bestimmungen einhalten.

Der lange Weg zur Anerkennung
Mutter und Kalb zusammen in einer Herde und Weidehaltung im Grasland Schweiz – was im Jahr 2021 selbstverständlich tönt, ist als Mutterkuhhaltung doch eine noch relativ junge Tradition. Erst in den 1970er-Jahren begannen die ersten Schweizer Landwirte, auf die weltweit verbreitetste Art der Fleischproduktion umzusatteln. Bis dann mästeten Milchviehbetriebe die männlichen Tiere oder gaben sie speziellen Mastbetrieben. Ein Motiv für den Wechsel lag im gesättigten Milchmarkt. «Mit Milchvieh konnte man die Familien nicht mehr ernähren», erklärt Urs Vogt, Geschäftsführer von Mutterkuh Schweiz. Als zweiten Grund nennt er die vielen Grasflächen in der Schweiz, die man nicht für Ackerbau nutzen könne.

 

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Man suchte Alternativen und wurde in der Mutterkuhhaltung fündig, bei der man auch Markt-Chancen sah. «Die Mutterkuhhaltung ermöglichte den Bauern eine Spezialisierung und gab der Landwirtschaft neue Optionen», sagt Vogt. Doch die 42 Pioniere, die sich vor 44 Jahren zum Verein Mutterkuh Schweiz zusammenschlossen, hatten noch einige Hürden zu überwinden und Überzeugungsarbeit zu leisten.

So mussten sie – auch politisch – um die offizielle Anerkennung als Rindviehzuchtorganisation kämpfen. In den 1970er-Jahren waren in der Schweiz einzig Herdebücher für die Rassen Braunvieh, schwarzes Fleckvieh (Holstein), rotes Fleckvieh (Simmental) und Eringer zugelassen. Dies sei wohl eine Auswirkung der Tradition und des Zweiten Weltkriegs gewesen, sagt Vogt. «Die auf Milch und Käse ausgerichtete Lebensmittelherstellung musste effizient sein.»

Weil zudem der Import von Tieren verboten war, suchten die ersten Schweizer Mutterkuhhalter in ihren Milchviehherden nach geeigneten Kühen. «Sie müssen einen guten Mutterinstinkt und genügend Milch für ihr Kalb haben», erklärt Vogt. Die Pioniere starteten 1977 mit Original Braunvieh und Simmentaler. Da mittlerweile die Einfuhr von Sperma erlaubt war, kreuzten sie die Milchkühe auch mit Fleischrinderrassen – naheliegenderweise griff man zu den gros­sen Rassen Europas wie den schottischen Angus oder den französischen Limousin und Charolais.

Als der Bund das Mutterkuh-eigene Herdebuch 1986 anerkannte, bestand es aus Angus, Limousin, Charolais, Simmental und Braunvieh von 89 Betrieben. Mitte der 1990er-Jahre dann fiel das Importverbot für lebende Tiere. Dies war zugleich der Startschuss für den Boom der Mutterkuhhaltung. Nach und nach kamen neue Rassen in die Schweiz. 34 aus zwölf Ländern sind es mittlerweile (siehe Bildergalerie). Die einen sind häufig und berühmt wie das Schottische Hochlandrind oder das Wagyu aus Japan, andere selten und kaum bekannt wie das Lowline aus Australien oder die österreichischen Pinzgauer.

Rinderherden begegnenMutterkühe haben ihre Kälber stets im Blick und einen ausgeprägten Beschützerinstinkt. Deshalb sollte man die Kleinen nicht streicheln und den Herden nicht zu nahe kommen. Und Hunde sind in der Nähe von Rinderherden immer an der Leine zu führen. Kommt es bei einem Spaziergang oder bei einer Wanderung doch einmal zu einer brenzligen Situation, sollte man sich möglichst schnell und ruhig zurückziehen und dabei die Herde im Auge behalten, aber direkten Blickkontakt vermeiden. Auch Wegrennen ist keine gute Idee, denn dies könnte die Tiere zusätzlich animieren. Um die Herde kurzfristig abzulenken, kann man auch einen Rucksack oder eine Jacke liegen lassen. 

«Die Landwirte sollen selber wählen, mit welcher Rasse sie Mutterkühe halten», umreisst Vogt die Philosophie, «einzelne Rassen haben sich mehr ausgebreitet, andere weniger, alle machen aber dennoch Sinn.» Durchgesetzt haben sich in erster Linie jene Rassen mit weder zu grossen noch zu kleinen Tieren. Da es in der Schweiz hügeliger ist als im Ausland, bevorzugen hiesige Landwirte kleinere, robuste und trittsichere Rinder. Dies zumal sich 65 Prozent der Mutterkuh-Betriebe im Hügel- und Berggebiet befinden. «Die Tiere sind viel auf der Weide und müssen fit und gesund sein», erklärt Vogt.

Das Konzept Mutterkuhhaltung hat sich längst durchgesetzt. Während die Zahlen der Milchkühe stetig zurückgehen, gibt es immer mehr Mutterkühe. Gemäss Schätzungenwaren es im Jahr 2020 fast 115’000 Tiere und damit rund 2,4 Prozent mehr als im Jahr davor. Urs Vogt ist überzeugt, dass sich die Mutterkuhhaltung weiter ausbreitet. Klimatisch und topografisch sei die Schweiz prädestiniert dafür.

Eigene Marken und Direktverkauf
Das System sei ausserdem nachhaltig: «Es ist effizient, sorgt für Tierwohl, fördert die Biodiversität und nutzt nicht ackerfähige Gebiete oder Naturwiesen und konkurrenziert damit nicht die menschliche Ernährung.» Ein gewichtiges Argument ist zudem, dass Mutterkühe länger leben als Milchkühe. Sie werden im Schnitt knapp neun Jahre alt, während Milchkühe als gut sechsjährige geschlachtet werden.

Für die Klimabilanz sind länger lebende Kühe besser, da auch ihre Nutzungsdauer länger ist. Einerseits braucht es weniger Aufzuchttiere, um geschlachtete Mutterkühe zu ersetzen. Andererseits gleichen sie die Zeit ihrer Jugend besser aus: In den ersten zwei bis drei Lebensjahren bekommen Kühe noch keine Kälber, stossen aber bereits Methan aus.

Der Mutterkuh-Nachwuchs indes kommt mit neun bis elf Monaten ins Schlachthaus und wird als «Natura Beef» verkauft, die fünf- bis sechsmonatigen Tiere als «Natura Veal» und die spätreifen Tiere als «SwissPrimGourmet». Die Marken gehen auf die Mutterkuhhalter der ersten Stunde zurück: «Sie fragten sich, wie sie die Haltung fördern und die Zucht unterstützen könnten und welche Verkaufsmöglichkeiten es dafür gebe», erklärt Vogt. Überzeugt davon, dass weidende Rinder eine bessere Fleischqualität liefern und «Fleisch aus Gras» eine Spezialität sei, lautete die Antwort: Direktverkauf.

Die 1980 gegründeten Marken gehören dem Verein Mutterkuh Schweiz, der sie Landwirten und Metzgern zur Verfügung stellt und in Coop, Traitafina und Transgourmet grosse Partner gefunden hat. Es gebe nicht genug Mutterkuhtiere, um auch mit anderen Detailhändlern zusammenzuarbeiten, sagt Vogt. Doch das Fleisch vom Weiderind hat unter diesem Labelnamen längst auch an den Verkaufstheken von Migros, Lidl und Aldi Einzug gehalten. Weil es den heutigen Idealvorstellungen der Kundschaft entspricht.

Der Mutterkuh-Erlebnisweg ist offen bis 31. Oktober. Zu mehr Infos und der Wegbeschreibung geht es hier.