Es ist Tag zwei des vom Bundesrat erklärten Notstandes in der Schweiz. Doch die Corona-Krise im malerischen Willisdorf TG gerät schnell in Vergessenheit. Spätestens, wenn man die Brücke über den beschaulich plätschernden Bach zur Rottmühle überquert, wähnt man sich in einer anderen Welt, einer heilen Welt. Bei fast schon kitschigem stahlblauen Himmel und strahlendem Sonnenschein watscheln hier ein paar Enten über die Wiese. Ein paar Meter weiter knabbern Kaninchen an ihrem Futter. Und drei neugierige Pferde strecken ihre Hälse in Richtung Besuch. Bei ihnen handelt es sich nicht um irgendwelche Pferde, sondern um seltene Mazedonier. 

Die Kleinpferde, die optisch dem Bosniaken ähneln, kommen nur in der ehemals zu Jugoslawien gehörenden Republik, in der angrenzenden griechischen Region Makedonien – und erstaunlicherweise auch in der Schweiz vor. Rund zehn der eleganten Vierbeiner leben hierzulande. Drei von ihnen sind Irinia, Olivia und Osmania, die eingangs erwähnten «Gwundernasen». Sie gehören Margrit und Hermann Imhof. «Olivias Mutter war Halbaraberin, die anderen beiden sind reinrassig», erklärt Margrit Imhof, die über Jahrzehnte eine Kinderreitschule leitete und auch selbst ritt. Mittlerweile steigen sie und ihr pensionierter Mann aber nicht mehr in den Sattel. «Das tun dafür meine früheren Schülerinnen. Über mangelnde Bewegung können sich unsere Pferde also nicht beklagen.»

Vor dem Aussterben gerettet
Ausreichend Beschäftigung braucht das Mazedonier-Trio auch, obwohl die drei bereits über 20 Jahre auf dem Buckel haben. Denn die Rasse ist zwar für ihre Gutmütigkeit, aber auch für ihr grosses Temperament bekannt. Anders als die kräftigen Belgischen Kaltblüter, die Margrit Imhofs Vater hielt. «Ich wollte immer eigene Pferde, aber keine Riesen, sondern feingliedrige, temperamentvolle», sagt sie. Ihr Mann nickt dabei zustimmend. Dass ihr Traumpferd 1973 in die Schweiz kam, ahnte Margrit Imhof damals noch nicht. In diesem Jahr wurden nämlich rund 140 Mazedonier aus dem damals zu Jugoslawien gehörenden Hochland über die eidgenössische Grenze gebracht. Karl Staub aus Lachen SZ habe sie vor dem Metzger gerettet, erzählt Hermann Imhof. «Sie waren total abgemagert. Und weil ihre neuen Besitzer die armen Tiere zu energiereich fütterten, starben einige von ihnen an Hufrehe, einer Entzündungskrankheit.» 

In ihrer Heimat wurden die Mazedonierpferde von Maschinen verdrängt, weshalb es keine Verwendung mehr für sie gab. Zudem wurde die Zucht laut Imhof nur noch planlos betrieben. Diese Umstände führten fast zum Aussterben der Rasse. Um das zu verhindern, wurde 1974 der bis heute existierende «Schweizerische Verein Mazedonischer Pferde» (SVMP) gegründet. Er war der deutsche Namensgeber für die in ihrem Herkunftsland Vardaska genannten Pferde und bewahrte die einst bei Bauern auf dem Balkan geschätzten Arbeitstiere vor dem Untergang. 

Grossen Anteil daran haben die Imhofs. Nachdem 1979 zufällig via «Tierwelt»-Inserat eine Mazedonierstute den Weg zu ihnen fand, verschrieben sich die beiden der Rasse mit Haut und Haaren. Dafür sorgte auch ein unerwarteter Umstand. «Was wir beim Erwerb der Stute nicht wussten, war, dass wir bald auch noch ein Fohlen haben würden. Oseka war nämlich trächtig», sagt Hermann Imhof und lächelt, als wären die Erinnerungen an diese freudige Überraschung noch taufrisch. 

SteckbriefHerkunft: Orientalische Pferde, wahrscheinlich Thessalier.
Typen: Tarpan-Typ mit feinen Gliedmassen und einem Stockmass bis 135 Zentimeter. Przewalski-Typ mit kräftigen Gliedmassen und einem Stockmass bis 145 Zentimeter.
Farbe: Vorwiegend braun, aber auch Füchse, Schimmel, Rappen.
Erscheinungsbild: Edler Körperbau, grosse Augen, kleine Ohren, feines Langhaar.
Eignung: Freizeit, Fahren, Distanz-reiten.
Charakter: Intelligent, ausgeglichen, gutmütig, lebhaft.

Nach diesem Sprung ins kalte Wasser, wie  Imhof das Aufziehen des ungeplanten Zuwachses nennt, trat er dem SVMP bei und wurde 1984 für rund ein Vierteljahrhundert dessen Präsident. Analog dazu widmete sich der Thurgauer zusammen mit seiner Frau der Mazedonierzucht. Im Laufe der Zeit sind bei ihnen elf Fohlen geboren worden. Acht davon reinrassig und drei mit einen Araberblutanteil, so wie Olivia. Das mussten wir tun, um Inzucht zu vermeiden», sagt Margrit Imhof. 

Zum Einsatz kamen die Pferde der Imhofs nicht nur für Kinderreitstunden, sondern auch für Patrouillenritte – stets im Westernreitstil. Sie sind sehr genügsam, trittsicher und gutmütig. Auf der anderen Seite können sie aber auch ganz schön vorwitzig sein. «Irinia ist vor allem im Umgang mit Kindern sehr zuverlässig. Sie kann aber auch ein Schlitzohr sein», sagt Hermann Imhof und blickt schmunzelnd zu der erwähnten Stute. Diese spitzt aufmerksam ihre «Schlitzohren», als würde sie genau registrieren, was ihr Halter über sie erzählt.

Ausbildung zum Therapiepferd
Und tatsächlich lässt sie den Worten zusammen mit Olivia wenig später Taten folgen. Als Margrit und Hermann Imhof sie und Osmania zum Gruppenfoto bitten, trotten sie brav zu den beiden und zeigen sich von ihrer besten Seite. Doch kaum ist Margrit Imhof kurz durch ein Gespräch abgelenkt, büxen Irinia und Olivia blitzschnell durch das offene Tor ihres Paddocks aus. «Sehen Sie, was ich meinte?», sagt Hermann Imhof. Er kann sich ein Lachen nicht verkneifen. Seine Frau holt die beiden Ausreisser derweil problemlos von einer nahe liegenden Rasenfläche. Ein strenger Blick und ein kurzes Kommando reichen aus und die beiden traben brav zurück in die «Rottmühlen-Ranch», wie ihr grosszügiger Offenstall im Eingangsbereich liebevoll auf einem Holzschild angeschrieben ist.

Dort wartet Leitstute Osmania seelenruhig auf die Rückkehrer. Die 23-Jährige ist die Ranghöchste der kleinen Herde und drehe nur in Anwesenheit von männlichen Pferden durch, sagt Margrit Imhof mit einem Zwinkern. In der Zwischenzeit ist ihre ehemalige Reitschülerin Sabrina angekommen, um mit Olivia zu arbeiten. Ihr Ziel ist es, die Mazedonierstute als Therapiepferd auszubilden. Denn auch dafür ist die vielseitige Rasse wegen ihrer angenehmen Grösse und dem gutartigen Charakter geeignet. 

«Zurzeit ist es wegen der Corona-Krise nicht möglich, Reittherapien durchzuführen. Hoffen wir, dass diese Zeit bald vorbei ist», sagt Hermann Imhof ohne jeden Anflug von Verzweiflung. Zusammen mit seiner Frau, den Kleintieren und den drei Mazedoniern hat er schliesslich einen Rückzugsort, der den Notstand zumindest temporär vergessen lässt.