Tiergestützte Therapien
Tiere im Einsatz: Therapie mit Alpakas, Hunden und Ameisen
Ob Hund, Pferd oder Alpaka: Tiere können die Lebensqualität verbessern, die Genesung beschleunigen oder klassische Therapien um eine vielversprechende Option erweitern. Unterwegs mit zwei Profis für tiergestützte Therapie.
Am wichtigsten sei heute Nachmittag die Freude, sagt Thom Bernard. Und strahlt übers ganze Gesicht, während er die letzten Vorkehrungen für den nachmittäglichen Besuch auf der Demenzabteilung des Alterszentrums Schlossgut in Münsingen (BE) trifft. Hier hat der diplomierte Pflegefachmann als Stationsleiter gearbeitet, bevor er sich mit seinen Alpakas selbstständig machte. Aus den anfänglichen vier sind mittlerweile über 90 Tiere geworden. Eine stattliche Herde. «Es ist ein 7-mal-24 Stunden-Job», sagt der 45-Jährige, dem sein Partner in jeder freien Minute und ein Wochenende pro Monat zwei Aushilfskräfte bei der Versorgung der agilen Tiere zur Hand gehen, die an diesem sonnigen Nachmittag in der Berner Gemeinde Köniz an drei unterschiedlichen Standorten grasen.
Noch schnell ein Blick auf den Laptop und die im Stall installierten Kameras. Zwei Tiere sind trächtig, die Stunden bis zur Geburt gezählt. Das bringt Thom Bernard nicht aus der Ruhe, mit Notfällen bei Menschen und Tieren hat er jahrelange Routine. 25 bis 50 Babys erblicken pro Jahr das Licht der Welt oder erst einmal Bernards Hände, wenn Support erforderlich ist. Doch im Moment herrscht Ruhe im Stall, dem Besuch in Münsingen steht nichts mehr im Weg.
Mit dem Kleintransporter zur Weide, wo 24 Hengste grasen. Und schon sind sie da: Lanzarote – eine Beauté in tiefstem Schwarz – und sein weisser Kumpel Rockstar, ein sechsjähriger, aufgeweckter Huacaya-Hengst. Die beiden springen flink in den mit Stroh ausgekleideten Wagen. Thom Bernard lobt seine Schützlinge, und klar, dass einige Goodies die Motivation zusätzlich befeuern. Die zwei Auserwählen sind kein zufälliger Griff in die Herde, sondern das Resultat einer sorgfältigen Triage, bei der sich Bernard auf seine langjährige Erfahrung mit den Tieren wie auch eine akribisch geführte Excelliste verlässt, die sämtliche Einsätze der Hengste dokumentiert. Lanzarote und Rockstar, die beiden mehrfach ausgezeichneten Zuchthengste, haben eine viertägige Pause hinter sich, wirken tiefenentspannt und strecken ihre Ohren neugierig in alle Himmelsrichtungen. Auszeiten zwischen tiertherapeutischen Einsätzen oder Spaziergängen sind für den Könizer Alpakahalter ein Muss: «Unsere Tiere sollen für solche Einsätze ausgeruht und mit Freude bei der Sache sein», so seine Maxime. Nicht minder wichtig: Längst nicht jeder seiner Zöglinge mag den Kontakt mit Menschen, das gelte es ebenso zu respektieren, ist Bernard überzeugt.
Was tiergestützte Therapie will und kannMit dem Einbezug von Tieren in die Therapie sollen sowohl körperliche und psychische Aspekte als auch soziale und kommunikative Fähigkeiten gefördert werden. Zum Zielpublikum gehören Menschen mit besonderen Bedürfnissen oder einer psychischen oder physischen Erkrankung. Studien zeigen, dass diese Therapieform besonders auf Kinder mit Gesundheitsproblemen und Entwicklungsstörungen wie Autismus-Spektrum-Störung, ADHS und Zerebralparese positiv wirkt.
Zurzeit werden in der tiergestützten Therapie nebst Hunden am häufigsten Pferde, Katzen, Kaninchen oder Meerschweinchen eingesetzt, wobei es bei Nagetieren nicht um den direkten Körperkontakt geht, sondern ums Beobachten, Füttern oder den Unterhalt des Geheges. Laut den Richtlinien der «International Association of Human-Animal Interaction Organizations» dürfen wilde und exotische Tierarten nicht direkt in tiergestützte Interaktionen einbezogen, sondern nur aus Distanz für pädagogische Zwecke beobachtet werden.
Adieu Schwermut, hallo Heiterkeit
Lanzarote und Rockstar sind eigentliche Routiniers und scheinen zu ahnen, was in den nächsten Stunden auf sie zukommt. Seelenruhig sitzen sie im hinteren Teil des Kleinlasters und sind sofort wieder auf allen Vieren, als der Wagen am Zielort stoppt. Stolzieren durchs Entrée des Altersheims, wo sich die Köpfe aller Mitarbeitenden und Besucherinnen nach diesen vifen Kreaturen mit den langen Hälsen, dunklen Kulleraugen und flauschigem Fell drehen. Im Lift nach oben geben die Tiere kurz dem Druck des Liftes nach und balancieren sich aus, um dann wieder erhobenen Hauptes Richtung Demenzabteilung zu schreiten.
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Erste Station: eine bettlägerige, hochbetagte Frau, die ins Leere blickt und ihre Hände um eine Plüschkatze klammert. Thom Bernard begrüsst sie mit Namen und geht vorsichtig auf sie zu, ohne seine Tiere je aus den Augen zu lassen. Während eine noch rüstige Zimmerkollegin Lanzarote begeistert füttert und liebkost, führt Bernard den weissen Hengst seitlich so ans Pflegebett, dass die Hand der Liegenden den weichen Hals berührt. Und siehe da: Augen und Lippen der Patientin bewegen sich, sie versucht, einige Worte zu artikulieren. Ein kurzer luzider Moment, der selbst die anwesende Pflegerin in Staunen versetzt. «Sie hat früher mit vielen Tieren zusammengelebt», flüstert sie.
Weiter geht es in den Gang, wo es sich ein Ehepaar auf einem Sofa gemütlich gemacht hat. Zeit für ein Selfie, befindet die Frau, die heute ihren Partner besucht. Füttern will er die Tiere nicht, aber so ein bisschen sitzen und gucken, das ist schon mal etwas. Weiter hinten auf einem anderen Sofa dann ein munteres Vierergespann, das sich – als Lanzarote einer Frau versehentlich kurz auf den Fuss tritt – vor Lachen kaum halten kann.
Ob liegend oder sitzend, ob zaudernd oder draufgängerisch: Alle Anwesenden wollen die zwei Hengste begrüssen, füttern oder streicheln. Manchmal braucht es den kommunikativen Brückenschlag von Thom Bernard, damit die Leute Mut fassen, sich dem Tier zu nähern, manchmal die zigste Wiederholung dazu, wo das Tier Berührung mag und wo nicht. Trifft die Instruktion ins Leere, führt Bernard die Hand der Patientin, die jetzt den sichtlich irritierten Rockstar zum wiederholten Mal am Rücken krault, an die richtige Stelle. Diskret, routiniert und ohne den liebevollen Dialog mit der Seniorin abreissen zu lassen.
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Plötzlich ist die Stunde um. Rockstar und Lanzarote schreiten nochmals durch den Gang, flankiert von vielen Bewohnerinnen und Bewohnern, die alle ein letztes Mal die feinfühligen Tiere streicheln, ihnen zuwinken oder etwas zuraunen wollen. Schon beseitigt der Staubsauger die letzten Spuren vom Futter, das sein Ziel verfehlt hat, während die beiden Hengste behände die Treppe ansteuern und zurück in den Kleintransporter springen.
Aufwendiges Training
Thom Bernard ist zufrieden, die heutige Mission geglückt. Erst auf der Rückreise wird klar, welch immense Arbeit hinter diesem so leichtfüssig wirkenden Einsatz steckt. Der Vater eines Sohns hat nicht nur eine eineinhalbjährige Ausbildung zum Lama- und Alpakatherapeuten durchlaufen und theoretische und praktische Grundlagen über Jahre verinnerlicht, sondern auch jeden Schritt, jede mögliche Situation, die sich bei einem solchen Besuch ergeben kann, antizipiert und mit seinen Schützlingen immer wieder trainiert. «Wir beobachten unsere Tiere von Geburt an und merken rasch, welche für tiergestützte Interventionen infrage kommen», sagt der passionierte Pflegefachmann, der lange in der Psychiatrie gearbeitet hat.
Alpakas – so sein Fazit nach achtjähriger Arbeit mit dieser aus den Anden stammenden Kamelart – seien wie gemacht für tiergestützte Einsätze. «Als Fluchttiere verstehen sie sich bestens auf das Lesen der Muskeln und erkennen im Nu, wenn das Gegenüber unglücklich, ängstlich oder angespannt ist. Hier kann ich als Therapeut ansetzen und die Reaktion des Tieres für den Menschen übersetzen.» Konkret heisst das: Nachfragen, wieso der Körper sich verspannt, und Wege suchen, um sich dem Tier anders zu nähern. Ein grosses Plus sind auch die taktilen Reize mit Streicheln oder Füttern, auf die besonders Menschen mit Demenz gut reagieren.
Neues Verhalten in tierischer Obhut
Ob im Einzel- oder Gruppensetting: Die Einsätze mit den Alpakas erfordern nicht nur viel Know-how, sondern auch reichlich Zeit für die Vorbereitung und die anschliessende Dokumentation und Auswertung. Hinzu kommen regelmässige Checks des Gesundheitszustandes der Tiere, das ständige Beobachten und Abschätzen, welches Tier sich für welche Einsätze eignen könnte, die monatelange Angewöhnung an Menschen und Halfter oder das «Klicker-Training», dank dem Wägen oder der Sprung ins Auto nach und nach zum «Courant normal» wird.
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Doch der Aufwand lohnt sich: «Die Tiere bringen so viel in Bewegung», sagt Bernard, der auch auf Spaziergängen grossen Wert auf vorgängige Instruktionen zum richtigen Umgang mit den Alpakas legt. Gefährlich ist es noch nie geworden. «Die Menschen merken meist intuitiv, welches Verhalten in der jeweiligen Situation angezeigt ist.» Nicht selten geschieht Wunderliches: Etwa, wenn ein ungestümer, hyperaktiver Sechsjähriger – wie unlängst auf einem Spaziergang mit einer heilpädagogischen Klasse geschehen – plötzlich hochkonzentriert und pflichtbewusst neben Lanzarote durch Wald und Wiese trottet.
Stress vermeiden
Thom Bernard will das Vertrauen seiner Tiere auf keinen Fall aufs Spiel setzen. Das kann auch bedeuten, dass ein Einsatz abgebrochen wird, wenn ein Tier gestresst ist oder die Umstände es erfordern. Und es bedeutet auch, dass er nicht sämtliche Anfragen – von denen es im Moment reichlich gibt – annimmt, um die Tiere nicht zu überfordern. Denn: «Das Alpaka ist eigentlich kein Arbeitstier. Es braucht den Menschen nicht, um wohlauf zu sein. Futter, Weide und Artgenossen zum Spielen, damit ist das Glück für sie perfekt», so Bernard. Und in der Tat: Lanzarote und Rockstar zupfen längst wieder das Gras aus dem Boden und sonnen sich inmitten ihrer Kameraden, als hätten sie nie etwas anderes getan.
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Szenenwechsel in den Kanton Zürich. Jacqueline Boitier hat einen Kubus von 30 x 30 x 30 cm vor sich. Formicarium heisst dieses spezielle Terrarium. Vor einem halben Jahr lebten darin 21 Schwarze Gartenameisen mit «Rose», der Königin. Mittlerweile hat sich das Volk mehr als verdoppelt. Mit ihren arbeitsamen Krabbeltieren leistet die Ergo- und Psychomotoriktherapeutin, die auch ein CAS, eine Weiterbildung, in tiergestützter Therapie innehat, in ihrem Fachbereich Pionierarbeit. Inspiriert habe sie die Tatsache, dass im asiatischen Raum aus Platzgründen oft Insekten als Haustiere gehalten werden, erinnert sie sich.
Feine Reize
Doch mit der Anschaffung eines Formicariums und den Ameisen war es nicht getan. Boitier recherchierte, vernetzte sich mit Ameisenspezialisten in Zoos, setzte sich intensiv mit den Bedürfnissen der Tiere auseinander, experimentierte, lernte durch genaues Beobachten. Denn Temperatur und Luftfeuchtigkeit müssen im Lot sein und auch die Winterruhe von Oktober bis März im kühlen Keller ist Teil des Programms. Ebenso anspruchsvoll: der Transport dieses Würfels. Starke Erschütterungen können das Nest zerstören.
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«Der Aufwand und die Verantwortung sind riesig», sagt die umtriebige Therapeutin, die keinen Moment ihres Experiments bereut und ihre Masterarbeit über Ameisen in der tiergestützten Therapie verfasst hat. Denn anders als ihr Chihuahua-Hund, der manchmal auch in Therapien zugegen ist, erreichen die vier Millimeter langen Tiere die Kinder in der Ergo- oder Psychomotoriktherapie auf eine subtilere Art. «Im Vordergrund steht das Beobachten», sagt die 33-Jährige. Selbst Kindern mit starkem ADHS gelinge es, über längere Zeit konzentriert das emsige Treiben der Arbeiterinnen zu verfolgen. Hin und wieder dürfen sie den Tieren etwas Banane verabreichen oder bei der Futterzubereitung helfen. Gerade etwas zurückhaltendere Kinder, die von ihrem aktiven Hund rasch überfordert seien, reagierten in der Therapie gut auf das vielbeschäftigte Volk hinter Glas.
Bessere Motorik, mehr Aufmerksamkeit
Das Formicarium bildet einen idealen Ausgangspunkt für zig weitere Aktivitäten. Ob Parcours, Basteln oder das anschliessende Beobachten der Artgenossen in der freien Wildbahn: Die Krabbeltiere faszinieren jüngere und ältere Kinder und helfen ihnen dabei, ihre fein- und grobmotorischen Kompetenzen zu erweitern. «Ameisen liefern so viele Denkanstösse, was Bewegung oder das soziale Miteinander anbelangt», freut sich die Tochter eines Schädlingsbekämpfers. «Viele Kinder wachsen in der Therapie über sich hinaus, sind motiviert, den Dingen auf den Grund zu gehen und werden selbst zu Experten dieser Tiere, deren Sozialverhalten sich im Kubus besonders gut beobachten lässt.»
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Mit ihrem Formicarium ist Jacqueline Boitier als Therapeutin derzeit noch allein auf weiter Flur, doch ihre Pionierarbeit, die an einer Zürcher Primarschule begann und jetzt in der Selbstständigkeit weitergeht, ist ihr jede Minute wert. Mit ihrem Experiment hat sie nicht nur bei Dutzenden von Kindern das Interesse für den Kosmos Natur geweckt und sie grob- und feinmotorisch gefördert, sondern auch die klassische Psychomotoriktherapie mit der tiergestützten Intervention um eine weitere Option erweitert. «Insekten haben ein so enormes Potenzial», ist sich Boitier sicher und plant bereits ihre nächsten Projekte.
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