Unterschätzte Kriechtiere
Schnecken in Gefahr
Jeder kennt Weinbergschnecken und die gefrässigen Nacktschnecken im Garten. Doch allein in der Schweiz existieren über 250 weitere Schneckenarten. Peter Müller, Biologe und Schneckenexperte, hat sich dem Schutz gefährdeter Weichtiere verschrieben.
Peter Müller sieht den Wald mit anderen Augen. «Die vielen Fichten sind im Mittelland ein Problem für Schnecken», erklärt er mit Blick auf den Wald am Seerücken im Thurgau. Müller kümmert sich als selbstständiger Biologe hauptsächlich um den Erhalt der biologischen Vielfalt einheimischer Weichtiere. Heute ist er in einer wichtigen Mission unterwegs: seltene Arten zu finden. Denn der Lebensraum der Schnecken auf der Nordseite des Seerückens ist gefährdet. Die kurvenreiche Kantonsstrasse soll ausgebaut werden. Müller will nun die Umgebung nach möglicherweise gefährdeten Schneckenarten absuchen, um gegebenenfalls Schutzmassnahmen anzuregen.
Diese sind auch bitter nötig, denn Fichten verkleinern und zerstückeln die naturnahen Laubwälder auf dem Seerücken stark. Die sehr schnell wachsenden Fichten gehörten früher zu den bevorzugt angepflanzten Bäumen in der Forstwirtschaft, sorgen jedoch dafür, dass der Boden oberflächlich versauert. «Für kalk-liebende Schnecken, und das sind die meisten Arten, ist das fatal», weiss Peter Müller. Ausserdem fehlen den Tieren in durch Fichten dominierten Wäldern die Laubblätter als Nahrung.
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Vielfalt im toten Laub
Ausgerüstet mit Fahrrad und Karte fährt Peter Müller die Strasse ab und wirft einen geschulten Blick auf mögliche Schneckenhabitate. Im Auftrag des kantonalen Tiefbauamtes muss er abklären, ob gefährdete Schneckenarten entlang der Kantonsstrasse vorkommen. Geeignete Trockenwiesen sind an der Strasse keine vorhanden, so geht es zu einem nahegelegenen Waldtobel mit alten Laubbäumen: «Hier ist die Chance gross, eine gefährdete Schneckenart zu finden», meint Müller.
Schnecken gehören zusammen mit den Muscheln und Tintenfischen zu den Weichtieren, die sich durch eine Raspelzunge (Radula) und einen bauchseitigen muskulösen Fuss auszeichnen. Ihre Grösse variiert von unter einem Millimeter (Ammonicera rota) bis über 90 Zentimeter (Grosse Rüsselschnecke, Syrinx aruanus). Die grösste und bekannteste Schnecke der Schweiz ist die Weinbergschnecke (Helix pomatia). Sie ist in den meisten Kantonen geschützt, gehört aber nicht zu den 41 Prozent der Schweizer Weichtiere, die als gefährdet eingestuft werden.
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Nahe am Boden tut sich ein völlig neuer Lebensraum auf, der den meisten Augen sonst entgeht. Zwischen Springschwänzen, Käfern und Spinnen finden sich zahlreiche Schneckenhäuser verschiedener Arten. Die bekannten Bänderschnecken sind bereits aktiv und suchen nach geeigneten Paarungspartnern. Am häufigsten sind die Weissmündigen und Schwarzmündigen Bänderschnecken (Cepaea hortensis und C. nemoralis), zu unterscheiden an der namensgebenden Färbung der Häuschenmündung. Trotz des auffälligen Streifenmusters sind sie zwischen dem Laub erstaunlich gut getarnt. Deutlich von den kugeligen Gehäusen der Bänderschnecken unterscheidet sich das des Steinpickers (Helicigona lapicida). Es ist linsenförmig und weist eine deutlich abgezeichnete Kante auf, die man als Kiel bezeichnet. Dadurch ist die Art mit keiner anderenSchnecke verwechselbar. Ihren Namen hat sie vom bevorzugten Lebensraum zwischen Felsen und Mauern, wo sie sich dank der Form ihres Gehäuses gut in enge Spalten zurückziehen kann.
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Plötzlich stutzt Peter Müller und hält ein winziges Objekt gegen das Licht. «Wenn ich mich nicht täusche, dann ist dies das Häuschen einer Weitmündigen Glasschnecke. Diese ist stark gefährdet!» Im Büro wird er den Fund später noch unter dem Stereomikroskop verifizieren. Die Weitmündige Glasschnecke (Semilimax semilimax) ist so etwas wie eine Zwischenform zwischen «Hüslischnägg» und Nacktschnecke. Sie kann sich nicht in ihr kleines Gehäuse zurückziehen und trägt es wie einen Rucksack mit sich herum, worin noch gewisse wichtige Organe verstaut sind. Sie ist daher auf feuchte, schattige Standorte angewiesen. In der Schweiz ist ihr Vorkommen auf die Ostschweiz beschränkt, sehr zerstreut, und wie bei allen anderen gefährdeten Arten durch die Vernichtung ihres Lebensraums bedroht. Vorsichtig legt Peter Müller das Gehäuse in eine kleine mitgebrachte Plastikdose, die er mit Moos polstert, damit das fragile Gebilde in seinem Rucksack nicht zerbricht. Motiviert durch dem Fund, macht er sich weiter auf die Suche nach Schneckenhäuschen zwischen dem verrottenden Laub der Buchen.
Zersetzer mit Raspelzähnen
Hier offenbart sich auch die zentrale Bedeutung von Schnecken für das Ökosystem: Die meisten von ihnen sind Vegetarier und zersetzen totes Material wie Blätter und andere Pflanzenreste. Indem sie das Material zerkleinern, fördern sie den Kreislauf der Nährstoffe und machen die winzigen Teilchen zugänglich für weitere Bodenbewohner. Die wenigen, aber sehr gefrässigen Arten, die lebende Pflanzen fressen, sind für viele Gartenbesitzer jedoch auch ein Dorn im Auge. Naturnahe Gärten profitieren hier von den natürlichen Feinden der Schnecken: Vögel, Frösche und vor allem Igel haben die Weichtiere zu ihrer Leibspeise erkoren und halten sie in Schach. Als Nahrung für andere Tiere nehmen Schnecken so eine weitere wichtige Position im Ökosystem ein.
Manchmal werden den heimischen Mollusken auch andere Schnecken zum Verhängnis. Peter Müller hält ein Blatt in die Höhe, auf dem eine dunkelbraune Nacktschnecke klebt. «Das ist eine Spanische Wegschnecke. Sie wird bis zu 15 Zentimeter lang und bedroht als invasives Neozoon die einheimische Rote Wegschnecke.» Die Spanische Wegschnecke (Arion vulgaris) verdrängt ihre Schweizer Schwesternart zunehmend, und paart sich auch mit ihr, sodass Hybriden entstehen und die reine Rote Wegschnecke (A. ater ruber) langsam verschwindet. Auch Nacktschnecken besitzen übrigens meist noch den Rest eines Gehäuses. Dieses haben sie jedoch weitgehend reduziert oder es in ihren Weichkörper hinein verlegt, sodass sie sich nicht mehr zum Schutz darin zurückziehen können.
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Am Fuss eines Bergahorns stösst Peter Müller auf eine weitere der gesuchten Arten, die stark gefährdete Geradmund-Schliessmundschnecke (Cochlodina orthostoma). Ihr konisch gewundenes Häuschen ist knapp einen Zentimeter lang und besitzt in der Mündung eine charakteristische, namensgebende Wölbung. Die Art kriecht gerne nasse Baumstämme, Felsen und Mauern hoch, um dort Algen, Aufwuchsflechten und Detritus abzuweiden. Daher ist sie typisch für alte Laubwälder, jedoch nur sporadisch verbreitet und an manchen Standorten verschwunden.
Ausgleichsmassnahmen für Artenvielfalt
Ein paar Meter weiter findet der Biologe in einem alten Buchenbestand am Strassenrand die Rötliche Daudebaride (Daudebardia rufa). Sie ist eine der wenigen fleischfressenden Arten in der Schweiz, ernährt sich von Regenwürmern, Insektenlarven und anderen Schnecken und ist nur aus dem nördlichen Drittel der Schweiz bekannt. Peter Müller ist zufrieden mit seinen Funden, die er akribisch in ein Formular einträgt. Die Resultate übermittelt er an die Zuständigen des Kantons Thurgau.
Sobald die Verbreiterung der Kantonsstrasse realisiert wird, sind auch sogenannte rechtlich vorgeschriebene Ausgleichsmassnahmen nötig, damit sich die Bestandssituation der gefährdeten Schneckenarten im Wald, durch den die Kantonsstrasse führt, nicht verschlechtert. «Es sollten keine neuen Fichten mehr gepflanzt werden, dafür solche Laubbäume, die für die Schnecken besonders bekömmlich sind», fordert Peter Müller. Besonders Esche und Ahorn haben bei Schnecken beliebtes Laub. Müller wünscht sich auch, dass alte Laubbäume länger stehen- und Totholzteile liegengelassen werden. Hier finden die Weichtiere nicht nur Nahrung, sondern auch genügend feuchte Verstecke. Zudem können sie hier ihre Eier ablegen und diese sich geschützt vor Trockenheit und Räubern zu kleinen Schneckchen entwickeln.
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Die durch die Ausgleichsmassnahmen verminderten Einnahmen könnten sich die Waldeigentümerinnen und -eigentümer vom Tiefbauamt finanziell abgelten lassen. Generell wünscht sich Peter Müller, dass die Verantwortlichen, unter ihnen das Forstamt, den Schnecken mehr Beachtung schenken. «Schnecken sind wichtig für das Ökosystem, es besteht eine gesetzliche Verpflichtung, gefährdete Arten zu erhalten, und die einzelnen Arten sind zum Teil noch wenig untersucht», erklärt der Biologe. «Verschwindet eine Art, so sind die Auswirkungen auf den Rest der Lebensgemeinschaften ungewiss.»
In der Nähe der Kantonsstrasse steuert Peter Müller noch eine andere Adresse für potenziell gefährdete Schneckenarten an: Auf der Trockenwiese des Freudenberger Rebbergs findet er die Wulstige Kornschnecke (Granaria frumentum). Sie braucht viel Sonne und Wärme, offenen Boden und intakte Trockenwiesenvegetation. Die wertvollen Böschungen sind aktuell verwildert, stark verbuscht und teilweise von Ranken überwachsen, eine Situation, wie sie Müller leider oft antrifft: «Daher ist das Vorkommen der Schnecke hier akut vom Erlöschen bedroht.» Eigentümerin des Standorts ist das Kloster Einsiedeln im Kanton Schwyz,welches über die ganze Schweiz verstreut Ländereien besitzt. Entsprechend optimistisch ist Müller: «Eine Aufwertung der Böschungen, von der viele weitere seltenere Arten profitieren, ist sicher auch im Sinne des Klosters, geht es doch aus christlicher Sicht um die Erhaltung der Schöpfung.»
Was kriecht denn da? 281 Muscheln, Land- und Süsswasserschnecken sind in der Schweiz zu finden. Mithilfe des digitalen Bestimmungsschlüssels «Schnecken checken» des Naturhistorischen Museums Bern in Zusammenarbeit mit Info Fauna lassen sich die Weichtiere anhand von einfachen Merkmalen auch durch Laien bestimmen. Ob mit Häus-chen oder ohne, kleiner als ein Daumennagel oder über zehn Zentimeter lang, auf der Seite ist auch jede heimische Schnecke komplett mit Steckbrief, Verbreitungskarte und Gefährdungsstatus aufgelistet. So wird aus der einfachen Nacktschnecke eine Garten-Wegschnecke und aus der Häuschenschnecke eine Heideschnecke. schneckenchecken.ch
Die Winzigsten Die globale Schneckenvielfalt ist noch längst nicht gänzlich erfasst. Erst Anfang Jahr entdeckte ein internationales Forscherteam rund um Dr. Adrienne Jochum vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt (Deutschland) und vom Naturhistorischen Museum Bern 42 neue Arten aus der Schneckengattung Angustopila. Mit im Schnitt gerade mal 0,89 Millimetern Schalenhöhe sind sie die kleinsten Landschnecken der Welt. Die neuen Arten stammen aus Proben, die in Höhlen in China, Laos, Myanmar, Thailand und Vietnam genommen und unter dem Stereomikroskop untersucht wurden.
Internationales Weichtier des Jahres Die chilenische Stachelschnecke (Concholepas concholepas) ist internationales Weichtier des Jahres. Die Meeresschnecke nimmt in ihrer Heimat die Rolle als Schlüsselart ein, die das Vorkommen anderer Arten kontrolliert. Die fleischfressende Schnecke mit einer Schalenlänge von etwa 15 Zentimetern gehört zu den Felsenschnecken und ist im südöstlichen Pazifik zu finden. Wie viele Arten hat sie mit Ausbeutung und Meeresverschmutzung zu kämpfen. Sie ist darüber hinaus für die Wissenschaft äusserst interessant, da ein Bestandteil ihres Blutes immuntherapeutische Wirkungen gegen einige Krebsarten besitzt.
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